Interview mit Jürgen Habermas„So viel Wissen über unser Nichtwissen gab es noch nie“
- Jürgen Habermas, 1929 in Düsseldorf geboren, ist einer der größten Philosophen unserer Zeit.
- Im Interview mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger” spricht er über das unsichere Leben in der Corona-Krise und das Verhältnis von Glauben und Wissen.
Herr Habermas, wie leben Sie persönlich in der, wie erleben Sie die Corona-Krise?
Ich kann nur sagen, was mir in diesen Tagen durch den Kopf geht. Unsere komplexen Gesellschaften begegnen ja ständig großen Unsicherheiten, aber diese treten lokal und ungleichzeitig auf und werden mehr oder weniger unauffällig in dem einen oder anderen Teilsystem der Gesellschaft von den zuständigen Fachleuten abgearbeitet. Demgegenüber verbreitet sich jetzt existentielle Unsicherheit global und gleichzeitig, und zwar in den Köpfen der medial vernetzten Individuen selbst. Jeder Einzelne wird über die Risiken aufgeklärt, weil für die Bekämpfung der Pandemie die Selbstisolierung der einzelnen Person mit Rücksicht auf die überforderten Gesundheitssysteme die wichtigste einzelne Variable ist. Zudem bezieht sich die Unsicherheit nicht nur auf die Bewältigung der epidemischen Gefahren, sondern auf die völlig unabsehbaren wirtschaftlichen und sozialen Folgen. In dieser Hinsicht – so viel kann man wissen – gibt es, anders als beim Virus, einstweilen keinen Experten, der diese Folgen sicher abschätzen könnte. Die wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Experten sollten sich mit unvorsichtigen Prognosen zurückhalten. Eines kann man sagen: Soviel Wissen über unser Nichtwissen und über den Zwang, unter Unsicherheit handeln und leben zu müssen, gab es noch nie.
Ich habe Ihr neues Buch „Auch eine Geschichte der Philosophie“ in der dritten (!) Auflage gelesen. Das ist ein für dieses Metier ungewöhnlicher publizistischer Erfolg – zumal das Thema ja von Haus aus alles andere als einfach ist: Es geht um die Genese nachmetaphysischen Denkens, um das Verhältnis von Glauben und Wissen in der abendländischen Denktradition und die komplexen Erbschaftsverhältnisse zwischen Religion und Philosophie in der Moderne. Haben Sie selbst mit diesem Erfolg gerechnet?
Daran denkt man, wenn man so ein Buch schreibt, nicht. Man hat nur Angst, Fehler zu machen – man denkt bei jedem Kapitel an den möglichen Widerspruch der Experten, die ja über die Details jeweils besser Bescheid wissen.
Mir selbst ist ein didaktischer Zug aufgefallen – Wiederholungen, Rückblenden, Abstand nehmende Zusammenfassungen strukturieren das Ganze und sorgen für Atempausen. Sie wollen, wie es aussieht, trotz der komplexen Thematik dem interessierten Laien den Zugang erleichtern.
Bisher befanden sich die Leser meiner Bücher wohl meistens unter akademischen Kollegen und Studenten verschiedener Fächer, auch und vor allem unter Lehrern, von denen manche Ethik und Sozialkunde unterrichten. Aber dieses Mal ist mir während dieser ersten Monate seit dem Erscheinen im Echo der Zuschriften ein ganz anderes Leserpublikum begegnet – natürlich diejenigen, die am Thema Glauben und Wissen interessiert sind, aber auch ganz allgemein nachdenkliche und Rat suchende Personen, darunter Ärzte, Manager, Rechtsanwälte usw.. Sie trauen anscheinend der Philosophie noch ein bisschen Selbstverständigungsarbeit zu. Das befriedigt mich, weil ja eine gewisse Überspezialisierung, die dem Blick des Philosophen und dem Fach als solchem in besonderer Weise schadet, eines meiner Motive zu diesem Unternehmen war.
Im – auf Herder zurückgehenden – Titel Ihres Werkes irritiert mich das Wörtchen „auch“…
Das „Auch“ im Titel macht den Leser darauf aufmerksam, dass dies nur eine, wenn auch neue Deutung der Philosophiegeschichte ist – neben anderen möglichen Deutungen. Diese Bescheidenheitsgeste warnt den Leser vor dem Missverständnis, eine erschöpfende oder gar definitive Geschichte der Philosophie in die Hand zu nehmen. Ich selbst folge der Interpretationslinie, wonach sich diese Geschichte aus der Perspektive eines bestimmten Verständnisses von nachmetaphysischem Denken als ein Lernprozess verstehen lässt. Kein einzelner Autor kann eine bestimmte Perspektive vermeiden; und in dieser spiegelt sich natürlich immer auch etwas von dessen theoretischen Überzeugungen. Aber das ist nur der Ausdruck eines fallibilistischen Bewusstseins und soll keineswegs den Wahrheitsanspruch meiner Aussagen relativieren.
Man kann das „auch“ auch anders verstehen: Es legt die Frage nahe, in welchem Verhältnis Philosophiegeschichte und die Glauben/Wissen-Thematik hier zueinander stehen. Ich habe den Eindruck, dass dieses Verhältnis nicht ganz spannungsfrei ist. Und sei es, weil streckenweise – zumal im zweiten Band – das Glauben/Wissen-Thema zugunsten anderer Schwerpunktsetzungen, etwa das Verhältnis von Moralität und Sittlichkeit betreffend, aus dem Blick gerät.
So ist es nicht gemeint. Ich bin als Philosoph an der Frage interessiert, was wir aus dem Diskurs über Glauben und Wissen lernen können. Das zwischen Kant und Hegel anhängige Problem des Verhältnisses von Moralität und Sittlichkeit nimmt gerade deshalb breiten Raum ein; denn dieses Problem hat sich aus der zugleich säkularisierenden und radikalisierenden Aneignung des universalistischen Kerns der christlichen Liebesethik herausgeschält. Der Prozess der begrifflichen Übersetzung von zentralen Gehalten der religiösen Überlieferung ist mein Thema – in diesem Fall also die nachmetaphysische Aneignung der Idee, dass alle Gläubigen eine universale und doch geschwisterliche Gemeinde bilden und dass jedes einzelne Mitglied unter Berücksichtigung seiner unvertretbaren und unverwechselbaren Individualität eine gerechte Behandlung verdient. Diese Gleichberechtigung einer Jeden ist kein triviales Thema, wie wir heute auch in der Corona-Krise sehen. Im bisherigen Verlauf der Krise konnte man und kann man in manchen Ländern Politiker beobachten, die zögern, ihre Strategie an dem Grundsatz auszurichten, dass die Anstrengung des Staates, jedes einzelne Menschenleben zu retten, absoluten Vorrang haben muss vor einer utilitaristischen Verrechnung mit den unerwünschten ökonomischen Kosten, die dieses Ziel zur Folge haben kann. Wenn der Staat der Epidemie freien Lauf ließe, um schnell eine hinreichende Immunität in der gesamten Bevölkerung zu erreichen, nähme er das vermeidbare Risiko des voraussehbaren Zusammenbruchs des Gesundheitssystems und damit einer relativ höheren Anteil an Toten billigend in Kauf. Meine „Geschichte“ wirft auch ein Licht auf den moralphilosophischen Hintergrund von aktuellen Strategien im Umgang mit solchen Krisen.
An die vorige schließt sich die allgemeinere Frage an, in welchem Verhältnis in Ihrem Werk Philosophiegeschichte und Geschichtsphilosophie stehen. In the long run erscheint der Entwicklungspfad abendländischer Philosophie bei Ihnen über alle Brüche und Neuansätze hinweg doch ein relativ konsequenter zu sein. Das zugrundeliegende Narrativ ist eben die Genese des nachmetaphysischen Denkens. Wird diese Folgerichtigkeit aber nicht auch mit Verlusten erkauft?
Eine konventionelle Geschichte der Philosophie ohne das irritierende „Auch“ strebt eine Vollständigkeit an, die sich, wie gesagt, ein einzelner Autor gar nicht vornehmen kann. Allerdings verrät der Anspruch, nach „Lernprozessen“ zu fahnden, so als handle es sich um eine Geschichte der Wissenschaften, eine ganz unübliche Perspektive. Diese verstößt einerseits gegen die platonistische Überzeugung, dass alle großen Philosophen auf verschiedene Weise immer nur dasselbe denken, aber andererseits auch gegen die heute vorherrschende, angeblich historisch aufgeklärte Skepsis gegenüber jedem Begriff von Fortschritt. Auch mir liegt ein geschichtsphilosophisches Fortschrittsdenken fern. Wenn man „Lernen“ im Sinne von pfadabhängigen, also Kontinuität stiftenden Problemlösungen als Leitfaden wählt, bedeutet das ja nicht, dass man der Philosophiegeschichte eine Teleologie unterschiebt. Es gibt kein Telos, das man mit einem „Blick von Nirgendwo“ erkennen könnte, sondern nur jeweils „unseren“ Blick zurück auf den Pfad von mehr oder weniger guten Gründen, aus denen die vorläufigen und dann historisch immer wieder herausgeforderten Lösungen einer bestimmten Art von Problemen aufeinander folgen.
Aber legt Ihr Buch nicht die Frage nahe, ob es im philosophischen Denken einen „Fortschritt“ gibt. Platt gefragt: Ist Kant „besser“ als Aristoteles?
Natürlich nicht – so wenig wie Einstein „besser“ war als Newton. Ich will die erheblichen Unterschiede zwischen dem philosophischen und dem wissenschaftlichen Denken nicht verwischen und möchte auch nicht im selben Sinne von „Fortschritten“ sprechen. In beiden Fällen „veralten“ nämlich theoretische Ansätze und Paradigmen auf eine andere Weise. Aber die erwähnten Autoren sind im Hinblick auf die Probleme, die sie zu ihrer Zeit im Lichte der jeweils aktuellen Fragestellungen und damals verfügbaren Informationen und Gründe gelöst haben, zu Pionieren geworden. Sie haben bisher gültige Auffassungen umgestürzt. Und sind zu klassischen Denkern geworden – wobei „klassisch“ heißt: Sie haben uns immer noch etwas zu sagen. Auch die moderne Wissenschaftstheorie knüpft noch an Einsichten der Zweiten Analytik des Aristoteles an und die moderne Ethik an Kants Begriffe von Autonomie und Gerechtigkeit – wenn auch im Rahmen veränderter theoretischer Sprachen.
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Immer wieder stellen Sie dar, wie sich Paradigmenwechsel in der Geschichte des Denkens – etwa der Bruch mit der mythischen Weltauffassung in der Achsenzeit – aus der Bearbeitung kognitiver Dissonanzen und auch aus „materiellen“ Veränderungen in der sozialen Lebenswelt der jeweiligen Kulturen ergaben. Da sieht man sich irgendwie an das marxistische Basis/Überbau-Schema erinnert. Was mir auch nach der Lektüre nicht ganz klar ist: In welchem Verhältnis stehen nach Ihrer Auffassung philosophiegeschichtliche Weichenstellungen zur Realgeschichte? In welchem Maße sind sie abhängig von ihr, und in welchem Maße behaupten sie eine und sei es relative Autonomie (oder werden sogar selbst sozusagen zu „Produktivkräften“)? Es gibt in Band 2 (S. 111) eine aufschlussreiche Stelle zu diesem Problem: Sie lehnen es dort – im Kontext der Erörterungen zu John Locke und dem frühen Liberalismus, mit impliziter Zurückweisung von Lukacs und anderen – ab, die „vernunftrechtliche Theoriebildung auf eine bloße Widerspiegelung…“ zu reduzieren.
Ich glaube, dass die funktionalistische Lesart der Marx'schen Theorie, wonach alle kulturellen und gesellschaftlichen Veränderungen letztlich auf Imperative der Selbstverwertung des Kapitals zurückzuführen sind, ohnehin falsch ist. Marx hat gemeint, dass diese Imperative die gesellschaftliche Entwicklung vorantreiben. Und mindestens für die gesellschaftliche Moderne hat es ja eine gewisse Plausibilität, dass die kapitalistische Wirtschaft eine evolutionäre Führungsrolle übernommen hat. Das bedeutet aber keine durchgängig einseitigen kausalen Abhängigkeiten. Andererseits lässt sich die Geschichte der Philosophie auch nicht allein aus internen Fragestellungen und Problemlösungen erklären, wie das beispielsweise Nicolai Hartmann mit seinem Konzept der Problemgeschichte vorgeschlagen hat. Die Philosophie ist von Anfang an mit dem Selbstverständnis ihrer jeweiligen Gesellschaft verwoben. Beispielsweise muss in unseren modernen Gesellschaften der Legitimationsbedarf der säkularisierten Staatsgewalt, das heißt die verfassungsrechtliche Gestalt der politischen Ordnung, mit philosophisch einleuchtenden Gründen bestritten werden – letztlich mit der Begründung von Menschenrechten. Soweit die Philosophie in dieser Weise auch Funktionen der gesellschaftlichen Integration erfüllt, kann man ihre Entwicklung nicht unabhängig von gesellschaftlichen Krisen betrachten. Das betrifft in erster Linie die praktische Philosophie, während die theoretische Philosophie vom Stand und von der Art des jeweils verfügbaren empirischen Wissens über Natur und Gesellschaft abhängt. Über lange Zeit ist diese Akkumulation des Weltwissens im begrifflichen Rahmen der Philosophie selbst verarbeitet worden. Aber seitdem sich die modernen Naturwissenschaften davon emanzipiert haben, musste die Philosophie auf die wissenschaftlichen Fortschritte, an denen sie nicht mehr initiativ beteiligt ist, reagieren – also auf Fortschritte in Physik und Astronomie, in Evolutionstheorie und Genetik, schließlich in den Kognitionswissenschaften und der Kybernetik. An diesen beiden offenen Flanken sieht sich die sonst von ihren intern erzeugten Problemen bestimmte Gedankenentwicklung immer wieder herausgefordert. Auf solche Herausforderungen muss die Philosophie manchmal sogar mit dem Umbau ihres grundbegrifflichen Gerüsts reagieren.
Welche Beziehung sehen Sie selbst zwischen Ihrem früheren philosophiegeschichtlichen Buch „Der philosophische Diskurs der Moderne“ und Ihrem neuen Werk? Die Gemeinsamkeit scheint mir hier wie dort in der Hegelianischen Denkfigur der „bestimmten Negation“ zu bestehen: Der Fortschritt des philosophischen Denkens ist eine Geschichte der Verneinungen. Im „philosophischen Diskurs“ ging es um den Ausweg aus einer Sackgasse, in die eine radikalisierte Kritik der subjektzentrierten Vernunftphilosophie geführt hat. Die Lösung war damals, wenn ich es recht erinnere, die kommunikationstheoretische Umstellung des Rationalitätsparadigmas. Damit wurde Ihre eigene Philosophie zum Ausweg aus der beschriebenen Aporie. Verständlicher-, aber auch bedauerlicherweise führen sie jetzt Ihre Darstellung nicht bis in die Gegenwart fort. Dennoch will dem Leser Ihre eigene Philosophie als – als solcher nicht benannter – Schlussstein im Gewölbe Ihrer philosophiegeschichtlichen Herleitungen erscheinen.
Ganz so eng sehe ich das nicht. Ich begreife zwar die Konstellation von Hume und Kant, die ich aus dem Diskurs über Glauben und Wissen erkläre, als eine Wegscheide für zwei Traditionen. Die eine beschränkt sich auf einen engeren, auf die Wahrheit von Tatsachenaussagen zugeschnittenen Begriff der theoretischen Vernunft und gegebenenfalls auf einen entsprechenden Begriff praktischer Rationalität. Die andere Tradition berücksichtigt darüber hinaus auch den rationalen Eigensinn moralischer und rechtlicher, ethischer und ästhetischer Fragen und entwickelt anhand des diskursiven Austauschs von entsprechenden Gründen einen komprehensiven Begriff der Vernunft. Aber auf meinen Begriff kommunikativer Rationalität gehe ich eigentlich erst im zweiten Teil des Nachwortes ein, und ich markiere das auch deutlich. Das Buch selbst endet ja mit den Weichenstellungen, die Feuerbach, Marx, Kierkegaard und Peirce nach dem Zerfall des Hegelschen Systems im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts vorgenommen haben. Dabei geht es mir eigentlich um den gemeinsamen grundbegrifflichen Rahmen, in dem diese Jung- und Nachhegelianer ganz verschiedene anthropologische, gesellschaftstheoretische, existenzphilosophische und pragmatistische Denkrichtungen angestoßen haben. Diese im 20. Jahrhundert entfalteten philosophischen Ansätze habe ich nicht mehr verfolgt. Allerdings habe ich bei der Behandlung von Peirce am Schluss die Denkfigur hervorgehoben, die für den Begriff der kommunikativen Vernunft entscheidend ist: Der idealisierende Gehalt von notwendigen pragmatischen Voraussetzungen, die wir bei der argumentativen Prüfung von Wahrheits- und anderen Geltungsansprüchen vornehmen müssen, schießt über die Realität hinaus; aber gleichzeitig entfaltet dieser Gehalt seine operative Wirkung in unseren gesellschaftlichen Praktiken und hinterlässt – in der Gestalt von Lernprozessen – Spuren der Vernunft in der Geschichte.
Ich bemerke bei Ihnen eine – so vorderhand nicht vermutete – starke Sympathie mit den philosophischen Denkleistungen des christlichen Mittelalters. Ist diese Sympathie vielleicht das Ergebnis eines auch für Sie selbst überraschenden Lernprozesses?
Ich hatte mich in meiner letzten Vorlesung vor der Emeritierung, das ist lange her, schon einmal mit Thomas befasst. Damals war ich schon fasziniert von der konstruktiven Kraft und inneren Konsistenz dieses großartigen Systems. Nun hat mich die Lektüre von Dun Scotus und Wilhelm von Ockham ähnlich beeindruckt. Ja, das sind nachgeholte Lernprozesse, mit denen ich mich aber, wenn ich recht beobachte, nur in einen schon länger bestehenden Forschungstrend der erneuten Aufwertung des hohen, an die Moderne näher herangerückten Mittelalters einfädele.
Zur Person
Jürgen Habermas, geboren am 18. Juni 1929 in Düsseldorf, aufgewachsen in Gummersbach, gilt als weltweit bedeutendster Gegenwartsphilosoph. Epoche machte seine diskurstheoretische Weiterführung der marxistischen Kritischen Theorie, die in eine anspruchsvolle Begründung des demokratischen Rechtsstaats mündete. Habermas lehrte an der Uni Frankfurt und lebt heute in Starnberg.
Im vergangenen November hat Habermas sein Werk „Auch eine Geschichte der Philosophie“ vorgelegt, in dem er in zwei Bänden die Geschichte der abendländischen Philosophie als Weg vom Glauben zum Wissen schildert.
„Auch eine Geschichte der Philosophie“, Suhrkamp Verlag, 1752 Seiten, 58 Euro.
Dennoch würde ich auf die Frage, welche Gestalt der Philosophiegeschichte in Ihrer Darstellung für Sie selbst das größte Identifikationspotenzial bereithält, antworten: Spinoza. Es gibt im Spinoza-Kapitel Strecken, bei denen ich spontan sagen würde: Da beschreibt Habermas sich selbst.
Das überrascht mich ein bisschen. Aber der Interpret kann einen Autor besser verstehen als der sich selbst. Etwas habe ich jetzt erst bei der Spinoza-Lektüre begriffen. Vor dem Hintergrund der Geschichte der Maranen – jener verfolgten, unter dem Zwang des spanischen Königs äußerlich zum katholischen Glauben konvertierten spanischen Juden – habe ich verstanden, warum Spinoza in den bürgerlichen deutsch-jüdischen Elternhäusern so vieler Intellektueller des 20. Jahrhunderts eine fast noch größere Verehrung genossen hat als Kant. Leo Strauß hat in der Einleitung zur englischen Übersetzung seines Spinoza-Buches darüber berichtet: Spinoza war eben nicht der Abtrünnige und plane Atheist, als der er zu seiner Zeit verfolgt wurde, sondern der redliche Aufklärer, der die Substanz seiner religiösen Herkunft, solange es gute Gründe dafür gibt, nicht verleugnet, sondern im Hegelschen Sinne „aufgehoben“ hat. Dafür habe ich tatsächlich Sympathien. Wirkungsgeschichtlich betrachtet, ist ja Spinozas Denken vor allem über die Naturphilosophie des jungen Schelling auch in die Anfänge der großen spekulativen Bewegung des deutschen Idealismus eingegangen.
Sie selbst äußern prospektiv Verständnis für die Leser, die in Ihrem Buch Nietzsche vermissen. Zu denen gehöre ich, offen gestanden, auch. Sie machen die „selbst empfundene Lücke“ mit Blick auf die „ästhetische Diskussion“ geltend, mir hingegen will es scheinen, dass Nietzsche gerade im Kontext der „Gott ist tot“-Theologie ausgezeichnet zum Zentralthema „Glauben und Wissen“ gepasst hätte.
Jeder für Literatur anfällige Adoleszente wird seinen Nietzsche einmal laut deklamiert haben, ich auch. Aber nach dem Kriege war der Nietzsche, der in der NS-Zeit mit seinem sozialdarwinistisch interpretierten „Willen zur Macht“ als Staatsphilosoph gefeiert worden war, noch zu nah. Aus diesem politischen Grund war ich gegen einen andauernden Sog dieser Prosa geimpft. Auch nachdem ich seine urbanen Seiten aus der französischen Perspektive besser kennen gelernt hatte, habe ich zu diesem Autor Abstand gehalten – bis auf seine erkenntnisanthropologischen Gedanken. Auch aus sachlichen Gründen überzeugt mich die „Genealogie des Christentums“ nicht, nicht einmal als Gedankenanstoß – Nietzsche offenbart darin ein zu unfreies Verhältnis zu seinem Gegenstand. Ich interessiere mich eigentlich nur noch für einen bestimmten Aspekt seiner Wirkungsgeschichte, der aber nicht in den zeitlichen Rahmen meines Projekts gepasst hätte – und zwar für die fatale Neigung mancher Philosophen, verdrängte religiöse Erfahrungen ins Ästhetische gewissermaßen zu sublimieren.
Sie benutzen mehrmals die Formel vom „Massen-Atheismus“ in den modernen westlichen Gesellschaften. Ich weiß nicht, ob es so gemeint ist, aber es klingt despektierlich. Als sei die Masse der säkularen Bürger durch Aufklärung unaufgeklärt, nicht auf der Höhe dessen, was „eigentlich“ angesagt ist. Das fände ich insofern interessant, als es Ihre generelle Neigung bestätigte, sich quer zum Zeitgeist zu positionieren – also entschieden „weltlich“, als das noch nicht so beliebt war, und mit genauso entschiedener Kritik, wenn das „Weltliche“ zum unreflektierten Mainstream wird.
Damit fühle ich mich missverstanden. Mit dem soziologischen Begriff „Massenatheismus“ will ich allein auf den im ersten Kapitel behandelten quantitativen Aspekt der nachlassenden Bindungskraft der Kirchen hinweisen, den wir heute vor allem in den west- und mitteleuropäischen Gesellschaften beobachten. Sie spießen aber eine Einstellung auf, die ich selbst mit dem kritisch gebrauchten Ausdruck „säkularistisch“ bezeichnen würde.