- Rüdiger Safranski, Germanist und Philosoph, hält am Donnerstag in Köln einen Vortrag zur Kunstreligion.
- Im Interview spricht er über die Rolle der Kunst und der Religion und ihre Bedeutung in einer säkularisierten Welt.
Herr Safranski, im Kölner WDR-Konzert an diesem Donnerstag halten Sie einen Vortrag über »Kunstreligion«. Ein traditionsreicher, aber auch problematischer Begriff, dessen Inhalts es sich zunächst zu vergewissern gilt. Treten Kunst und Religion hier in ein Ersetzungs- oder ein Vermischungsverhältnis? Sakralisierung des Ästhetischen oder Profanisierung des Sakralen?
Es ist beides, sowohl Ersetzung wie Vermischung. Mein Ausgangspunkt ist Richard Wagner, dessen »Lohengrin«-Vorspiel an diesem Abend ja ebenfalls zu hören ist. Wagner hat ausgeführt, dass dort, wo die Religion künstlich wird, es der Kunst vorbehalten sei, den Kern der Religion zu retten. Das beschreibt das Wagner’sche Projekt der Kunstreligion – deren Tempel dann Bayreuth wurde.
Die Kunst also übernimmt von der Religion die Stafette, das, was diese nicht mehr zu leisten vermag. Da entfaltet der Anti-Hegelianer Wagner eine sehr hegelianisch anmutende Geschichtsphilosophie …
Wagner hatte für das Ende des 19. Jahrhunderts bereits jene Krise der kirchlichen Religion konstatiert – die Kirchen leeren sich –, die sich bis heute fortsetzt. So kommt es zu der Entdeckung, dass die Kunst selber religiöse Komponenten hat. Es geht um die Erfahrung von Transzendenz in einem ekstatischen Sinn. Tatsächlich müsste das in einer säkularisierten Welt eine wachsende Bedeutung erhalten, damit wir nicht eindimensional werden, nicht mehr nur ökonomisch, moralisch und politisch denken.
Aber verlieren bei diesem Ersetzungs- und Mischungsvorgang letztlich nicht beide – Religion und Kunst?
Es könnte sich auch eine Win-win-Situation ergeben: Es könnte sein, dass die Menschen durch die Kunst erfahren, dass sie nicht vom Brot allein leben. Dass es eine größere Dimension gibt, die die Religion, aber eben auch die Kunst erschließen kann.
Kunstreligion ist, wie es aussieht, ein sehr deutsches Phänomen …
In Deutschland hat sie sich seit der Romantik besonders stark entwickelt, die war bereits so etwas wie die Fortsetzung der Religion mit ästhetischen Mitteln. Das hat dann aber ins Europäische ausgestrahlt. Denken Sie nur an den französischen Wagnerisme. Wagner war beispielsweise für Baudelaire derjenige, der die Kunst vor dem Banalen rettete.
Referent und Konzert
Rüdiger Safranski, 1945 in Rottweil geboren, studierte in Frankfurt/M. und Berlin Philosophie, Germanistik, Geschichte und Kunstgeschichte. 1970 gehörte er zu den Gründungsmitgliedern der Kommunistischen Partei Deutschlands/Aufbauorganisation (KPD/AO). An der FU Berlin arbeitete er von 1972 bis 1977 als wissenschaftlicher Assistent im Fachbereich Germanistik, 1976 wurde er mit einer Studie zur Arbeiterliteratur in der Bundesrepublik promoviert. Seit 1987 freier Schriftsteller. Bekannt wurde Safranski durch Monografien zu Schiller, E. T. A. Hoffmann, Schopenhauer, Nietzsche, Goethe und Heidegger. Seit 2012 ist er Honorarprofessor am Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der FU Berlin. Seit 2009 lebt er in Badenweiler.
An diesem Donnerstag spricht Safranski im Rahmen des WDR-Konzerts in der Kölner Philharmonie (Beginn 20 Uhr) über das Thema „Kunstreligion“. Gerahmt wird sein Vortrag von Wagners „Lohengrin“-Vorspiel und Bruckners siebter Sinfonie. Marek Janowski dirigiert das WDR Sinfonieorchester. Das Konzert gehört der neuen Reihe mit dem Titel: „Musik im Dialog“, deren Ziel es ist, Musik mit affinen Reflexionen prominenter Zeitgenossen zu kombinieren. (MaS)
Dabei muss man differenzieren: Wagner wollte selbst eine Religion stiften, andere wollten lediglich religiöse Energien und Erfahrungen in die Kunst hineinziehen. Und um das klarzustellen: Ich selbst will keine Kunstreligion, aber ich bin ein kryptoreligiöser Mensch und glaube als solcher, dass die Kunst einen Glutkern hat, den man religiös nennen kann – wenn man den Begriff Religion weiter fasst.
Kunstreligion – nicht von ungefähr eine Erscheinung des 19. Jahrhunderts – ist eine Antwort auf massive Säkularisierungsschübe …
Wir haben zwei große Wellen der Säkularisierung erlebt: Die erste traf die traditionellen Religionen, die zweite die religiöse »Restwärme« in der Kunst. Und da wird es dann problematisch. Hölderlin, über den ich gerade eine Biografie geschrieben habe, sagt: Wenn mir das Heilige, das Gedicht, gelungen ist, dann kann ich in den Orkus fahren. Er begriff sich selbst als den Priester der Poesie. Dieser Priestergestus ist uns heute bezeichnenderweise verhasst. Die Kritik an Peter Handke etwa hängt ja nicht nur mit seiner Position zu Serbien zusammen, sondern antwortet auch darauf, dass er sich als einen Priester der Literatur gibt.
Trotzdem gibt es in der säkularisierten Welt diesen »Phantomschmerz« …
Ja, es gibt das verbreitete Bewusstsein, dass »etwas fehlt«. Und für dieses Fehlen wird Kunst zuständig. Aber auch für die Religion ist festzustellen: Gott ist ja nicht ganz verschwunden, und wenn die Leute nicht mehr an den traditionellen Gott glauben, dann glauben sie nicht etwa an nichts, sondern an alles Mögliche. Wo Gott verschwindet, regieren die Gespenster. Es gibt eine frei flottierende Religiosität, die an anderen Themen andockt. Das Thema Klimakatastrophe wird derzeit geradezu apokalyptisch, also religiös, instrumentiert – und Greta Thunberg ist seine Heilige.
Täuscht der Eindruck, dass Kunstreligion vor allem in musikalischen Kontexten relevant wird – Sie halten Ihren Vortrag nicht von ungefähr in einem Konzert?
Nein, der täuscht nicht. Wenn die Wortsprache versagt, ergeht die Aufforderung an die Musik: Bitte, übernehmen Sie! Die Musik wird dann für das Unaussprechliche, das schlechthin »Andere« zuständig. Die Madame de Staël hatte bereits um 1800 anlässlich ihrer Deutschlandreise den Eindruck, dass die Leute hier, anstelle zu plappern oder Karten zu spielen, inbrünstig der reinen wortlosen Instrumentalmusik zuhörten.
Es gibt einen großen Denker des 19. Jahrhunderts, der erbittert gegen die Vermischung von Ästhetik und Religion gekämpft hat: Søren Kierkegaard – der übrigens in dem gläubigen Katholiken Joseph von Eichendorff einen deutschen Verbündeten hatte.
Kierkegaard hatte einen großen moralischen Verdacht gegen das Ästhetische, äußerte diesen Verdacht aber seinerseits mit ästhetischen Mitteln. Ein klassischer performativer Selbstwiderspruch – da saß jemand im Glashaus. Im Übrigen zeigt uns die Kunst, dass das Religiöse zu eng gefasst wird, versteht man es nur moralisch.
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Die ästhetische Erfahrung als eine transzendierende zu nehmen, bedeutet, die Religion davon zu befreien, lediglich eine Moralbegründung zu sein – das ist nämlich ziemlich langweilig. Und Moral begründet sich nicht aus Religion, sondern aus den Bordmitteln der Vernunft.
Wie passt Bruckner – dessen siebte Sinfonie erklingt – zum Phänomen Kunstreligion?
Bruckner ist da eigentlich ein einfacher Fall – er hätte, obwohl er Wagner bewunderte, nie dieses Wagner’sche Projekt einer Religionsstiftung mitgemacht – einfach, weil er in Gestalt der katholischen Religion, der er kindlich verbunden war, bereits eine hatte. Bruckner musste keine Artistenreligion erfinden.