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Ausstellung im WallrafSo sehr fürchteten sich Künstler vor der Liebe

Lesezeit 4 Minuten
  1. Das Wallraf-Richartz-Museum widmet eine Ausstellungs-Trilogie der Liebe.
  2. Unter dem Titel „Liebe am Abgrund“ stellt das Museum Radierungen von Max Klinger und Edvard Munch gegenüber.
  3. Verlangen und Vollzug ziehen hier Angstzustände und gesellschaftliche Ächtung nach sich.

Köln – „Und wie geil es ist“, schwärmt Jochen Distelmeyer in „Weil es Liebe ist“, einem der wonnigsten Lieder seiner Band Blumfeld, „wenn man sich dann küsst.“ Gut 100 Jahre zuvor konnte so ein Kuss noch das Verhängnis bedeuten, eine schiefe Ebene ins Leben bauen oder den Verlust des männlichen (Künstler-)Ichs im formlosen Ewig-Weiblichen nach sich ziehen.

„Liebe am Abgrund“ ist ganz schlüssig die Kabinett-Ausstellung im Wallraf-Richartz-Museum (WRM) betitelt, die mit Max Klinger und Edvard Munch zwei Apokalyptiker der Liebe zusammenbringt, beziehungsweise Klingers Radierzyklus „Ein Leben“ zeigt – eine Leihgabe der LETTER Stiftung –, unterbrochen von den ganz ähnlich gelagerten, nur durchweg radikaleren Motiven des sieben Jahre jüngeren Norwegers. Die kleine Grafik-Schau ist der zweite Teil einer Liebestrilogie im WRM, in deren erstem man die neckischen Abenteuer des Liebesboten Amor in Otto van Veens Band „Amorum Emblemata“ (1608) verfolgen konnte. Auch da tat die Liebe schon mal weh, schlugen die Pfeile gleich köcherweise in ihr Opfer ein. Von den tiefenpsychologischen Abgründen der Moderne ahnten van Veen und seine barocken Zeitgenossen noch nichts.

Ob Max Klinger, dessen Todestag sich am 5. Juli zum 100. Mal jährt, überhaupt der Moderne zuzurechnen ist oder nicht vielmehr mit seiner Bildsprache im Naturalismus verharrt, darüber herrschte lange Uneinigkeit. Weshalb, so die Kuratorin Anne Buschoff, die Wahlverwandtschaft zwischen Klinger und Munch auch lange geflissentlich übersehen wurde, obwohl die Künstler über einen gemeinsamen Freund, den norwegischen Genremaler und Schriftsteller Christian Krohg, verbunden waren, und Munch Klinger über alle Maßen wertschätzte.

Dass sich beide an den gleichen Motiven abgearbeitet haben, wird in der direkten Gegenüberstellung allemal offensichtlich: „Verführung“ hat Klinger seine Kussszene genannt. Das Blatt im ungewöhnlichen Hochformat ist, nach einem Prolog im Paradies, das zweite in Klingers assoziativ erzählten Geschichten vom Sündenfall eines Mädchens, der in gesellschaftlicher Ächtung, Prostitution und schließlich im Freitod durch Ertrinken endet.

Die Küssenden reiten hier auf drachenähnlichen Fantasie-Fischen, das Haar der Frau wallt zügellos im Strom, über ihr schlagen die Wellen drohend zusammen, am Meeresgrund blickt eine Seeschnecke den Liebenden entgegen, aufgrund ihres Zwitterwesen gilt sie als Symbol geschlechtlicher Vereinigung. In Edvards Munchs Kaltnadelradierung „Der Kuss“ (1895) dagegen scheint die schiere Intensität des Augenblicks jede klare Linie aufzulösen, wo sich die Münder von Mann und Frau begegnen, scheinen sie sich zu einem einzigen Wesen zu vereinen, „wie geil es ist“, will man mit Blumfeld ausrufen, doch Munchs Freund August Strindberg vermochte in dem Bild nur ein kleineres Wesen zu erkennen, das ein größeres verschlingen will, wie es „Gewürm, Mikroben, Vampire und Frauen tun“.

Die Panik vor der totalen Vereinnahmung durch die Frau ist auf anderen ausgestellten Blättern von Munch noch deutlicher zu sehen: „Salome“ nannte er ein Porträt der englischen Violinistin Eva Mudocci, die sich mit Siegerlächeln über seinen eigenen Kopf beugt, ihr wallendes Haar bedeckt seinen Schädel, seine Augen wirken stumpf, seine Wangen eingefallen, als würde er hier bereits auf dem Silbertablett präsentiert. Die tiefste Furcht im Manne sei die „Furcht vor dem Weibe“, die „Furcht vor dem lockenden Abgrund des Nichts“, wird der Frauenhasser Otto Weininger, Urahn der heutigen Incel-Subkultur unfreiwillig zölibatärer Jungmänner, wenige Jahre später in Wien schreiben.

Die Abgründe der Liebe, die in Klingers Radierungen klaffen, tun sich dagegen inmitten der Gesellschaft auf. Selbst das scheinbar unschuldige Motiv einer Ballerina in Arabesque-Pose wird bei ihm zum voyeuristischen Albtraum: Dem Betrachter hinter den Kulissen streckt die Tänzerin ihr Dekolleté entgegen, im Bildhintergrund wogt ein dunkles Meer aus Gaffern, die ihr unters Tutu starren. Der Titel der Radierung: „Für alle“. Das vorletzte Blatt seines „Ein Leben“-Zyklus zeigt Christus am Kreuz, davor die schmerzgebeugte Maria, gestützt von einem Jünger. So weit, so konventionell. Doch die Christus-Figur ist unverhüllt und ihr Unterleib weiblich. Übergroß und hell schraffiert leuchtet der Zwitter-Jesus der kleinen, dunklen Gruppe im Bildvordergrund heim. „Leide!“ befiehlt die Schrift am Kreuz. Geil ist hier gar nichts. Das Blatt wirkt collagenhaft, es könnte aus einer Serie von Max Ernst stammen. Kein Wunder, dass der Brühler und andere Proto-Surrealisten wie Alfred Kubin und Giorgio de Chirico Max Klingers Bildvisionen vom Sog der Liebe so schätzten.

„Liebe am Abgrund – Edvard Munch, Max Klinger und das Drama der Geschlechter“, Wallraf-Richartz-Museum, Obenmarspforten, Köln, Di.-So. 10-18 Uhr, 19. 6. bis 20. 9. 2020. Katalog: 12 Euro.