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Ausstellungs-Sensation in LondonAls könnte man Van Gogh noch einmal von Neuem sehen

Lesezeit 5 Minuten
Self-Portrait
Vincent Van Gogh
1889

Selbstporträt, Vincent van Gogh, 1889

Die National Gallery zeigt mit „Van Gogh: Poets & Lovers“ die Blütejahre des Malers, befreit von biografischem Ballast.

Vor zehn Jahren rekonstruierte die Künstlerin Diemut Strebe das fehlende Ohr Vincent van Goghs. Das verspätete Ersatzteil hatte sie mithilfe eines 3D-Bioprinters aus dem Erbgut eines Ururenkels des Bruders Theo van Gogh hergestellt. Man konnte das in nährstoffreicher Lösung aufbewahrte Werk als trocken-szientistischen Kommentar zum Mythos des gequälten Künstlers lesen. Näher kam man dem Mitbegründer der modernen Malerei auf diese Weise sicher nicht.

Zwischen van Goghs Bildern und deren Betrachtern hat sich die industrielle Vervielfältigung der Sternennächte und Sonnenblumen geschoben, all die Brillenetuis, Betttücher, Regenschirme und Untersetzer-Sets. Selbst die Legende vom leidenden Genie verbreitete sich in serieller Produktion: Als historische Figur soll der Niederländer mehr als 100 Film- und Fernsehauftritte absolviert haben.

Die National Gallery in London feiert mit der Van-Gogh-Schau ihren 200. Geburtstag

Die Ausstellung „Van Gogh: Poets & Lovers“ versucht nun, einen möglichst unverstellten Blick auf das Werk zu gewährleisten. Die Londoner National Gallery feiert mit der Schau ihr 200-jähriges Bestehen, spricht vollmundig von einem Jahrhundertereignis – und übertreibt dabei kaum, die Gelegenheit, diese 61 Meisterwerke noch einmal an einem Ort zu erleben, kommt wahrscheinlich nie wieder. Einige der hier gezeigten Leihgaben haben ihre Heimatmuseen zum ersten Mal überhaupt verlassen, „Das Porträt eines Bauers“ etwa, aus dem Norton Simon Museum im kalifornischen Pasadena, ein wettergegerbtes Gesicht im heftigen, quasi-expressionistischen Wetterleuchten der Farben.

Oder die „Sonnenblumen“ aus dem Philadelphia Museum of Art, die in London zusammen mit der Sonnenblumen-Variante der National Gallery die Flanken eines Triptychons bilden, in deren Mitte, auf dem „La Berceuce“ („Das Wiegenlied“) genannten Porträt, Augustine Roulin ein Seil in ihren gefalteten Händen hält, mit dem sie – außerhalb des Bildes – die Wiege ihrer kleinen Tochter schaukelt.

Porträt des Paul-Eugène Milliet, Vincent Van Gogh

Porträt des Paul-Eugène Milliet, Vincent Van Gogh

Diese Hängung hatte van Gogh in mehreren Briefen an seinen Bruder Theo vorgeschlagen, sogar eine kleine Skizze beigefügt, die Gelb- und Orangetöne des Kopfes der Mutter würden durch die Nähe der Sonnenblumen noch brillanter erscheinen. Als Ausstellungsort schwebte van Gogh kein bürgerlicher oder bohemistischer Salon, sondern eher das Schaufenster eines kleinen Pariser Geschäftes vor, seine Bilder sollten das einfache Volk ansprechen, ein Wiegenlied in harmonisch aufeinander abgestimmten Farben.

Die Londoner Ausstellung konzentriert sich auf seine bekannteste Schaffensperiode, die gut zwei Jahre, die er zwischen Februar 1888 und Mai 1890 unter dem Licht des französischen Südens verbracht hat, in Arles und Saint-Rémy. Ungefähr in die Mitte dieser kreativen Hochzeit fällt der Streit mit Gauguin, das abgeschnittene linke Ohr und wenige Monate später die Selbsteinweisung in die privat geführte Nervenheilanstalt in Saint-Rémy-de-Provence. Davon erzählt die Ausstellung nichts, sie folgt allein van Goghs ungebrochener künstlerischen Vision von einer Malerei der Zukunft.

Eben noch kam uns ein von einem blauen Tannenbaum verschattetes Paar im „Garten des Dichters“ von Arles entgegen, schon spazieren wir mit den Insassen des Hospitals von Saint-Rémy – einer der Patienten könnte der Maler selbst sein – durch den Garten der gelben Anstalt unter vibrierenden Pinien, die sich dem tiefen Blau des Himmels entgegen schlängeln. Der kleine Park ist für die Öffentlichkeit geschlossen, umso befreiter wirkt van Goghs Strich.

Auch die titelgebenden Porträts verweisen weniger auf Biografisches als auf Idealgestalten: „Der Liebhaber“, zur Linken des Dichtergartens im ersten Raum, zeigt ein Brustbild des örtlichen Schürzenjägers und Soldaten Paul-Eugène Milliet vor smaragdgrünen Hintergrund, „Der Poet“ zur Rechten den belgischen Maler Eugène Bloch vorm nächtlich-blauen Firmament. Die porträtierten Personen wirken eher zufällig, Sinn machen sie erst als Karten in Van Goghs persönlichem Tarot-Spiel.

Die Londoner Ausstellung führt uns zum Gelben Haus in Arles, in dem der Maler vier Zimmer gemietet hat, führt uns hinein in die bescheidenen Räume, in denen Van Gogh eine Art Kunsthalle des Südens imaginierte, zu den Möbel als Avataren des Künstlers, seinem Stuhl und seiner Bettstatt, über der einige Bilder hängen, die man hier ebenfalls wiederfindet, darunter ein Selbst-Porträt: Sein Malerkittel und der Hintergrund wirken mit ihren langen, unruhigen Strichen in Kobalt-, Azur- und Lapisblau wie Erweiterungen seines Blicks. Die Ausstellung führt uns auch wieder hinaus aus dem Gelben Haus, in eine traumschöne Sternennacht über der Rhone, auch hier mit einem anonymen Paar als einzigen Zeugen.

Doch um die Unendlichkeit zu schauen, brauchte Van Gogh keine Sterne, ihm genügte der Olivenhain hinter der Anstalt, er ist auf gleich sechs Bildern der Ausstellung zu sehen, im beeindruckendsten der Reihe scheinen sich die Bäume aus den grünen Wellen einer stürmischen Wiese zu erheben, ahmen mit ihren verdrehten Stämmen und Ästen die Wellenbewegung nach. Selbst die Felsen im Hintergrund wirken wie zum Leben erwacht, und eine weiße Wolke ballt sich so rund vergnügt, als sei sie just einer Comic-Lokomotive entwichen.

Alles lebt und liebt hier, Baumstämme und Felsformationen, strahlende Sonnen, Oleandervasen und Zufallsbekanntschaften, alles ist im Werden begriffen, fiebert dem Vergehen entgegen, reißt den Betrachter mit. „Poets & Lovers“ lässt uns vergessen, was wir von Vincent van Gogh zu wissen glaubten – und leiht den altbekannten Bildern noch einmal den Schock des radikal Neuen.


„Van Gogh: Poets & Lovers“, bis zum 19. Januar 2025 in der National Gallery, London