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Ausstellung über HaareEin Thema, das einfach nicht zu bändigen ist

Lesezeit 4 Minuten
Sieben Models mit bunten Perücken halten Schilder mit Nummern.

Bunte Perücken und falsche Wimpern: Helmut Newtons Arbeit „Courrèges“ für die französische „Vogue“ (1970)

„Grow it, Show it!“ im Essener Museum Folkwang beleuchtet kulturelle und politische Bedeutungen von Haar und Frisuren.

Geföhnt, hochgesteckt, kunstvoll geknotet oder musterhaft geschoren, üppig und dicht oder dünn und licht, einzeln nach hinten zusammengefasst, unter einer Perücke verborgen. Zu schweren Haufen aufgetürmt, in feine Zöpfe geflochten, gescheitelt und eng am Kopf anliegend, an zwei Seiten oder in großer Zahl allseitig herabhängend, perlenbesetzt, vom Winde verweht, in heikler Balance getragen oder schmerzvoll entfernt. In Wellen und Schnüren, Nestern und Igeln, zu fragilen Architekturen verflochten wie gotisches Strebewerk. Irgendwie muss es ja gebändigt werden.

Das Haarkleid des Menschen eignet sich gut für allerlei Erzählungen, neben den rein zweckmäßigen Funktionen, die es erfüllt, steckt es selbst schon voller Zuschreibungen und symbolischer Kräfte. Wärmedämmung, Tarnung, Schmuck, Imponiergehabe, Drohgebärde, erotisches Accessoire, religiöses oder soziales Attribut, Schönheitsmerkmal, politisches Statement, Material für schamanische Praktiken.

Münchhausen nutzt gar seinen Haarzopf, um sich selbst aus dem Sumpf zu ziehen

Samson, im antiken Mythos von Delila seines eindrucksvollen Haupthaares beraubt, büßt mit diesem auch seine Kräfte ein und wird zur leichten Beute für die herbeieilenden Kriegsknechte der Philister. Rapunzel kann den Prinzen an ihrem langen Haar zum vertraulichen Stelldichein in den Turm hinauf klettern lassen – bis die böse Hexe es ihr abschneidet. Und Münchhausen nutzt gar seinen Haarzopf, um sich selbst aus dem Sumpf zu ziehen. Haar hat immer schon die Fantasie beflügelt. Genauso spielt es in Mythos und Religion eine wichtige Rolle, wird demutsvoll geschoren oder in Strähnchen ans Kruzifix gehängt, wird unter der Kopfbedeckung verborgen. Es wird offen getragen als Symbol des Widerstands gegen die strengen Regeln, und es wird abgeschnitten.

Bereits seit Tausenden von Jahren werden raffinierte Frisuren und erlesene Produkte für seine Pflege ersonnen, Utensilien zu seinem Schmuck hergestellt. Kämme, Haarnadeln, Bänder, Diademe, Perlen, Tücher, Kappen und Hüte … alles Dinge, die der Schönheit dienen sollen und eine bestimmte Klassen- oder Gruppenzugehörigkeit und Weltanschauung unterstreichen. Welcher Gruppe fühle ich mich zugehörig? Das wird heute ausführlich auf Social Media verhandelt.

Eine Frau trägt ein buntes Kleid und bunte Erweiterungen im Haar.

Haare als körperpolitisches Statement im postkolonialen Diskurs: Thandiwe Murius „Camo 2.0“

Dass das Haar ein Thema auch der Kunst ist, erscheint also nur naheliegend. Und in der Tat zeigt die Ausstellung „Grow it, show it! Haare im Blick von Diane Arbus bis TikTok“ im Essener Folkwang Museum anhand von historischen und zeitgenössischen Fotografien, Videos und Filmclips, Magazinen und Fotobüchern, wie verbreitet das Thema Haare ist - als Identitätsmerkmal, Kommunikationsmittel und gesellschaftliches oder politisches Statement. Frisörläden waren mit die ersten, die nach den Lock-Downs der Corona-Pandemie wieder öffnen durften.

Es geht in Essen um offenes oder verstecktes Haar, um seine Farbe, um gelockt oder glatt, es geht ums Frisieren, um haarige Fetische und Lockenwickler, pomadige Scheitel und Malerei mit Körperhaar. Und das alles fängt schon im 19. Jahrhundert an. Ein großes Konvolut an Fotografien zeigt außerdem, welch wichtige Rolle die Haartracht in Afrika und der afrikanischen Diaspora spielt, als Modeaccessoire und Erkennungsmerkmal ebenso wie als körperpolitisches Statement im postkolonialen Diskurs.

Die queeren Communitys haben, wie auch viele Subkulturen, ihre eigenen Codes. Hippies, Punker, Rocker und Glatzen wurden als Bedrohung wahrgenommen. Und das wollten sie ja schließlich auch, die bürgerliche Ordnung stören. So wie sich junge Frauen zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit ihren neuen Kurzhaarfrisuren keck gegen die hergebrachten Geschlechterzuschreibungen und die ihnen darin zugedachte Rolle wehrten.

Schade, dass die Essener Ausstellung einen etwas ungeordneten und unpräzisen Eindruck mach

Schade, dass die Ausstellung einen etwas ungeordneten und unpräzisen Eindruck macht. Obschon es zahllose tolle und wichtige Arbeiten zu entdecken gibt und das Thema vor allem auch aus kulturhistorischer Perspektive interessant, ist die Installation der Schau wenig übersichtlich.

Zu J.D. Okhai Ojekeres Foto-Dokumentation nigerianischer Frisuren wird man glücklicherweise geradezu hingezogen. Die seit den 1960er Jahren entstehende schwarz-weiße Serie der von hinten fotografierten Köpfe mit ihren einzigartigen skulpturalen Frisuren erinnert an die Typologien von Bernd und Hilla Becher. Statt Industriebauten und Fachwerkhäuser sind es hier nun kunstvolle Frisuren.

Die Models in Helmut Newtons großer Arbeit „Courrèges“ aus der französischen „Vogue“ von 1970 tragen bunte Perücken und falsche Wimpern, August Sanders „Sekretärin beim Westdeutschen Rundfunk in Köln“ (1931) einen streng gescheitelten Bubikopf und eine Zigarette. Und in den poetischen Fotografien von Honda Afshar („Turn“, 2022) spielen zärtliche Hände, lange Flechtzöpfe und viel Luft die Hauptrolle.

Kurz vor dem Ausgang findet sich noch die grandiose mehrteilige Fotoarbeit („Untitled“, 1972) von Ana Mendieta, die die Künstlerin bei ihrer „Gesichtshaartransplantation“ zeigt. Am Ende hat sie einen Schnurrbart, sie sieht damit sehr schön aus.


„Grow it, Show it! Haare im Blick von Diane Arbus bis TikTok“, Museum Folkwang, Essen, Di.-So. 10-18 Uhr, Do.-Fr. 10-20 Uhr, bis 12. Januar 2025