Daniel Mullis kommt mit seinem Buch „Der Aufstieg der Rechten in Krisenzeiten“ zum Kölner Bücherfest - er beschäftigt sich darin vor allem mit der gesellschaftlichen Mitte.
Autor Daniel Mullis„Rechtes Gedankengut ist längst kein Randphänomen mehr“
Daniel Mullis, in Ihrem Buch untersuchen Sie den Aufstieg der Rechten mit Blick auf die gesellschaftliche Mitte. Dafür haben sie viele Gespräche mit Menschen aus der Mittelschicht geführt. Was hat Sie gerade daran interessiert?
Daniel Mullis: Schon lange gibt es empirische Befunde, dass die gesellschaftliche Mitte nicht mehr zwangsläufig ein Rückhalt der Demokratie ist und für politische Stabilität steht. Denn wir wissen, dass auch die Mitte nicht frei von rechtsextremen Wertehaltungen ist und dass es dort auch antidemokratische Haltungen und Fremdenfeindlichkeit gibt. Abwertungen von Menschen, die weniger Einkommen haben, sind hier wirklich stark verbreitet. Und wenn eine Partei wie die AfD bis zu 35 Prozent in manchen ostdeutschen Bundesländern in Umfragen erreicht, aber wie noch im Januar dieses Jahres auch bundesweit 22 Prozent – dann können wir gleichzeitig nicht mehr von einem gesellschaftlichen Randphänomen sprechen. Es geht hier schließlich um eine Partei, die mittlerweile ein rechtsextremer Verdachtsfall auf Bundesebene ist und in manchen Bundesländern schon ganz klar als rechtsextreme Partei eingestuft wird. Und daher müssen wir uns die Frage stellen: Was passiert eigentlich mit dieser Gesellschaft als Ganzes, in der eine Partei mit so einer Haltung einen solchen Zuspruch hat?
Sie beobachten eine „wachsende Anziehungskraft für autoritäre und ressentimentgeladene Haltungen“ in der Mitte der Gesellschaft. Ist das ein Schluss aus den 50 Gesprächen, die Sie und Ihr Team in verschiedenen Stadtteilen in Leipzig und Frankfurt geführt haben?
Das ist etwas, was wir auch schon in anderen Studien gesehen haben und was nun auch meine Empirie erhärtet. Insbesondere zu Zeiten der Pandemie ist das deutlich hervorgetreten. Das Phänomen ist aber schon älter, weil auch jenseits der Pandemie die gesellschaftlichen Krisenerfahrungen drastisch zugenommen haben. In meinen Gesprächen habe ich die Verunsicherung bei vielen Menschen sehr stark gespürt. Die Leute wissen nicht so genau, was die Zukunft bringen soll. Sie suchen nach Halt, fürchten sich davor, sozioökonomisch abzusteigen. Denn sie sehen, dass dieses Aufstiegsversprechen, von dem gerade die westdeutsche Gesellschaft einmal sehr stark getragen wurde, für viele Menschen nicht mehr funktioniert. Daraus entsteht dann die Bereitschaft, sich gesellschaftlichen Kräften zuzuwenden, die versprechen, dass sie ihren Status nicht verlieren werden und dass die Welt so bleiben wird, wie sie ist.
Sie haben in Ihren Gesprächen also eine starke Sehnsucht nach Stabilität und Beständigkeit erlebt?
Genau - und das aber in der Zeit, in der sich die Welt die ganze Zeit verändert, ja gar verändern muss. Gerade dieser Widerspruch ist letztlich ein starker Impuls, der Leute zu rechten bis rechtsextremen Parteien führt - was aber dann nicht zwingend heißt, dass diese Menschen auch grundlegend rechtsextrem sind. Aber diese politischen Kräfte entfalten eine starke Anziehungskraft – das sehen wir von der Empirie her sehr gut.
Der Supergau in Tschernobyl, Kalter Krieg, Umweltzerstörung - Krisen gab es ja beispielsweise auch in den 1980ern. Was ist heute anders?
Ich habe mich das auch immer wieder gefragt beim Schreiben. Es geht mir nicht um eine Art Wettbewerb der Krisen im Sinne von: Heute sind die Krisen deutlich schlimmer als damals. Was ich sagen kann ist, dass die Krisen heute in ihrem emotionalen und affektiven Verarbeiten ein sehr großes Gewicht entfalten. Ich selbst bin ein Kind der 90er Jahre und damals herrschte doch lange Zeit eine Idee davon vor, dass es eine Perspektive gibt, die einen vielleicht nach vorne ziehen wird. Und dieses Gefühl ist auch in meinen empirischen Gesprächen deutlich aufgetaucht. Die Leute sagen: Früher waren wir ja auch arm, und letztlich konnten wir uns weniger leisten als heute. Aber immerhin haben wir Jahr für Jahr gemerkt, dass es irgendwie aufwärts geht. Gerade die Rentnerinnen und Rentner können noch sagen: Als wir jung waren, war klar, dass unsere Kinder in eine bessere Welt hereinwachsen als in die, die wir selbst kennen. Und ich glaube, dieses Vertrauen ist grundlegend weg. Das ist ein fundamentaler Unterschied zu den früheren Jahrzehnten. Da hat so etwas wie ein Bruch stattgefunden und daraus entsteht eine Art Verkrampfung, die sich in eine Veränderungsfeindschaft übersetzt.
Unser Bundeskanzler spricht sehr oft von Zuversicht – aber das scheint sich offenbar nicht zu vermitteln. Haben Sie eine Idee, woran das scheitert?
Für manche Leute ist die Zuwanderung nach Deutschland „die Mutter aller Probleme“, wie es der ehemalige CSU-Vorsitzende Horst Seehofer 2018 formuliert hat. In der Vorstellung dieser Menschen wäre die Welt wieder heiler, wenn diese Migranten und Migrantinnen weg wären. Und solange die kommen, gibt es ein Problem. Das ist quasi eine gängige Krisen-Diagnose, gleichzeitig ist Migration ein Fakt und so nicht zu stoppen. Hier gibt es also eine Sollbruchstelle, die noch gefährlicher wird, wenn die Parteien der Mitte auch noch versuchen, das Thema Migration für sich selbst restriktiv zu instrumentalisieren, anstelle sicherer Fluchtwege zu ermöglichen und hier angekommen Integration zu gewährleisten. Gerade in den Städten, in denen ich geforscht habe gibt es aber auch noch viele andere Zukunftssorgen.
Zum Beispiel?
Die Wohnungskrise, der Investitionsstreit im Bildungsbereich, die Probleme des ÖPNV, das immer teurer werdende Leben. Da stehen also auch ganz handfeste materielle Konflikte im Raum im Zusammenhang mit wachsender sozialer Ungleichheit. Und da können Politiker so viel von Zuversicht reden, wie sie wollen: Wenn im Alltag der Menschen nicht ankommt, dass sich für sie irgendwas nach vorne bewegt. Dann wird das zu Recht als Sprachhülse wahrgenommen. Natürlich sind auch manche komplett in so ein Verschwörungsmilieu abgedriftet. Aber die ganz große Mehrheit der Menschen, mit denen ich gesprochen habe, hat schon ein sehr ausgeprägtes politisches Gespür. Sie wissen ziemlich genau, an welchen Stellen sich Worthülsen nicht mit dem decken, was für sie eigentlich vonnöten wäre. Da muss schon mehr passieren als nur schöne Reden.
Dass wir für eine gute Zukunft unseren Lebenswandel einschränken müssen oder Privilegien aufgeben – das ist natürlich auch schwierig als positive Utopie zu verkaufen, oder?
Natürlich klingt so etwas wie „Grenzen des Wachstums“ erstmal eher negativ. Aber wir bräuchten als Gesellschaft dringend eine sehr offene aber positiv nach vorne gerichtete Debatte: Was Wohlstand ist, wie wir Zukunft inklusive Klimawandel gestalten wollen. Bei den „Grenzen des Wachstums“ kann es ja auch um die Reduzierung von Arbeitszeit gehen, um die bessere Verteilung von sozialen Ressourcen. Und da gibt es ja auch soziale Potenziale für mehr gemeinschaftliches Miteinander, für eine bessere Aufteilung der Sorgearbeit von Kindern und Pflegebedürftigen. Und diese ständige Fixierung auf die Frage von ökonomischem Wachstum blockiert da ganz vieles an notwendigen Diskussionen.
Mit Menschen, die nicht an den Klimawandel glauben wollen, lässt sich natürlich schlecht darüber diskutieren...
Die Klimakrise wird eine fundamentale Veränderung für uns alle bedeuten – ob wir daran glauben wollen oder nicht. Die Veränderungen sind ja schon heute spürbar und spätestens für unsere Kindergeneration werden sie vehement. Da einfach die Augen zu verschließen und das nicht aktiv zu gestalten, ist fatal und letztlich Wasser auf die Mühlen der rechten Kräfte. Denn solange die Leute das Gefühl haben, dass nichts passiert, dass alles immer nur scheitert - solange wird auch diese Verhärtung und Verkrampfung gegenüber Veränderungen anhalten. Insofern glaube ich, dass es wichtig wäre, Demokratie zu stärken und sie aktiv zu beleben. Die Konflikte, die es in unserer Gesellschaft gibt, gilt es offen auszutragen. Dies aber unter der klaren Achtung von Menschen- und Grundrechten und auch nicht so, wie es die Ampel tut, im Klein-Klein. Gerade die etablierten Parteien der Mitte tun viel zu wenig dafür und hängen viel zu sehr einem Machtkalkül nach. Und damit erweisen sie dem gesellschaftlichen Zusammenhalt einen Bärendienst.
Sie schreiben, dass die Mitte aus strukturellen Gründen ein zentraler Ort der Verunsicherung und der Regression ist.
Schon seit der Nachkriegszeit zielten ganz viele politische Versprechen auf die gesellschaftliche Mitte. Selbst noch in den 1980er und 90er Jahren als es diesen Wandel hin zur Neoliberalisierung gab. Immer wurde der Mittelschicht signalisiert: „Solange ihr gut und hart arbeitet und euch Mühe gebt zu lernen, solange wird es für euch weiter aufwärtsgehen“. Und das war auch immer gepaart mit Ausgrenzungsmechanismen gegen Zuwanderung und Armut, Stichwort „soziale Hängematte“. Das hat sich in dieser Mitte bis heute ganz stark festgesetzt. In dieser Schicht, in der die Familien eine Form von sozialem Aufstieg erlebt haben, ist die Fallhöhe und die Sorge vor Abstiegserfahrung natürlich besonders groß. Weil diese Schicht auch am stärksten betroffen ist von den Transformationsprozessen. Und dort werden dann auch die Verteidigungshaltungen massiver.
Sehen Sie historische Parallelen?
Es ist kein historisches Novum. Es gibt also durchaus auch soziologische Arbeiten, die ähnliche Szenarien für die 1920er/30er Jahre aufzeigen. Aber ich finde, diese historischen Vergleiche haben ihre starken Grenzen und man sollte sie nicht überstrapazieren. Denn sie setzen einen Rahmen, vor dessen Hintergrund sich alles andere relativiert im Sinn von: „So schlimm wie damals ist es ja noch nicht.“ Und es gibt ja auch tatsächlich keine NS-Partei, die mit organisierten SA-Truppen durch die Straßen zieht. Aber der Aufstieg der extremen Rechten heute ist ein Fakt, ihre Gewalt ist auch heute real, wenn dabei stetes die Vergangenheit als Referenz herangezogen wird, dann droht man den zeitgenössischen Rechtsextremismus zu unterschätzen.
Daniel Mullis, geb. 1984, ist Leiter des DFG-Projektes „Alltägliche politische Subjektivierung und das Erstarken regressiver Politiken“ am Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt am Main. Sein Buch "Der Aufstand der Rechten in Kristenzeiten - Die Regression der Mitte" hat 336 Seiten, ist bei Reclam erschienen und kostet 22 Euro. Wir verlosen fünf Exemplare. Wenn Sie gewinnen wollen, schreiben Sie bitte bis 28. August, 12 Uhr, eine Mail mit Ihrem vollen Namen, Ihrer Adresse und dem Betreff „Daniel Mullis“ an ksta-kultur@kstamedien.de
Das Kölner Bücherfest ist ein Zusammentreffen von Buchhändlerinnen, Verlagen, Autoren und Leserinnen mit einer Mischung aus Sachbuch, Kinderbüchern und Romanen. Um 15.30 stellt Daniel Mullis sein Buch "Der Aufstieg der Rechten in Krisenzeiten" vor. Sonntag, 01. September, 11 – 18 Uhr, Altes Pfandhaus, Kartäuserwall 20. Der Eintritt ist frei.