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Autor Daniel Schreiber„Die Mauer des Verdrängens bekommt Risse“

Lesezeit 8 Minuten
Bestseller-Autor Daniel Schreiber.

Bestseller-Autor Daniel Schreiber.

Das neue Buch von Daniel Schreiber „Zeit der Verluste“ ist auch durch den Tod seines Vaters geprägt. Im März kommt der Bestseller-Autor zur lit.Cologne.

Im Rahmen eines Stipendiums haben Sie eine Zeit in Venedig verbracht. Wussten Sie schon vorher, dass Ihr Buch dort spielen sollte?

Es war ein schöner Zufall. Ich wusste relativ früh, dass das Buch von einem Tag handeln soll. Denn Trauer, glaube ich, findet so statt: Dass man einen Tag durchlebt und dann noch einen und dann noch einen ... Trauer hört nicht einfach auf. Aber ich wusste lange nicht genau, welcher Tag und an welchem Ort. Es hat sich alles irgendwie nicht richtig angefühlt. Und als ich dann in Venedig war und etwas Zeit dort verbracht habe, war mir klar: Das ist der Ort. Obwohl ich eigentlich erst gar nicht nach Venedig fahren wollte, weil ich die Stadt schon kenne und mich gefragt habe, ob man da unbedingt im Winter hinfahren muss ...

Und jetzt spielt der Ort sogar eine Hauptrolle in dem Buch.

Venedig ist Brennpunkt vieler klimatischer und politischer Entwicklungen. Die uns global bedrohen – diese Stadt aber schon viel länger. Man hat dort damit leben gelernt und geht damit mit einer gewissen Leichtigkeit, ja fast schon Lässigkeit, um. Und das ist eine Lebensqualität, von der wir lernen können. Tatsächlich fahren Leute seit dem 19. Jahrhundert immer wieder ein letztes Mal nach Venedig, um es zu sehen, bevor es untergeht. Das finde ich faszinierend.

Wir tun uns nicht leicht damit, über Trauer und Verluste zu sprechen. Hat Sie gerade das gereizt, eine Sprache dafür zu finden?

Mein Schreiben dreht sich tatsächlich darum, eine präzise und hoffentlich schöne Sprache für Themen zu finden, die sehr viele von uns bewegen. Über die wir aber nicht wirklich angehalten werden, zu sprechen. Ich wollte eigentlich kein Buch über private Trauer schreiben. Aber diese Trauer, die ich nach dem Tod meines Vaters gespürt habe, hat meinen Blick geweitet für diese vielen Verluste, die wir gerade alle erleben. Verluste, die bedrohlich sind und die unser Lebensgefühl gerade so stark einfärben. Und ich hatte das Gefühl, plötzlich weniger verdrängen zu können. Stärker davon bewegt zu werden. Das war für mich der Moment, in dem ich dachte: Darüber muss ich schreiben! Natürlich ist das eine gigantische Herausforderung. Aufgrund der Sprachlosigkeit, aber auch aufgrund unserer ganz natürlichen Instinkte. Denn natürlich möchte man sowohl die privaten Verluste als auch die kollektiven zunächst einfach verdrängen. Das tun wir alle und das ist bis zu einem gewissen Grad auch gut – bis es irgendwann überhaupt nicht mehr gut ist.

Eine vielleicht fragile, aber immer noch sehr greifbare Stabilität ist vorbei – das ist ein Wissen, das wir schon lange haben und verdrängen.
Daniel Schreiber

Haben wir die Krisen unserer Zeit zu lange verdrängt?

Sie haben sich auf jeden Fall schon lange angekündigt. Im Buch gibt es ein Gespräch mit einer Freundin, in dem wir uns überlegt haben: Wann hat dieses Gefühl eigentlich angefangen? Und dann sind wir diese ganzen großen Ereignisse durchgegangen: Trump-Wahl, Brexit, Krim-Invasion, Flüchtlings- und Finanzkrise ... Und in dem Gespräch habe ich verstanden, dass sich durch diese multiple Krisenhaftigkeit etwas ganz Grundlegendes verändert hat. Dass eine vielleicht fragile, aber immer noch sehr greifbare Stabilität vorbei ist – das ist ein Wissen, das wir schon lange haben und verdrängen.

Viele Gesellschaften erleben Endzeitstimmungen, das beschreiben Sie auch im Buch. Glauben Sie, dass die Verluste, die Sie wahrnehmen, spezifisch für unsere Zeit sind?

Ja, ich denke, es gibt gerade einen ganz konkreten Anlass zur Sorge: die politische Situation, die Spaltung der Gesellschaft, die vielen Kriege, der Klimawandel. Das sind wirklich Dinge, die unsere Existenz zutiefst bedrohen. Ich schildere, wie es so plötzlich schwerer wird, das nicht zu sehen, wie diese Mauer des Verdrängens Risse bekommt. Das erleben wir gerade kollektiv. Es kommt eine schlimme Nachricht nach der anderen und sobald man denkt: Es kann gar nicht mehr schlimmer kommen, kommt der nächste Krieg oder das nächste wirklich erschütternde Ereignis. Und das erleben wir in Deutschland seit sehr langem.

Wie viel Ihrer Arbeit erledigen Sie vor dem konkreten Schreiben? Ist der Prozess des Nachdenkens für Sie dann schon abgeschlossen und Sie verschriftlichen ihn nur noch?

Es passiert noch sehr viel während des Schreibens. Aber was ich vorher wirklich für mich durchdringen muss, sind die Fragen, denen ich mich stellen möchte. Alle meine Bücher - und erst recht dieses - drehen sich um schwierige Fragen, denen wir uns als Gesellschaft nicht stellen wollen. Und es ist wahnsinnig herausfordernd, bei diesen Fragen zu bleiben, weil wir immer bereit sind, Ausflüchte anzunehmen, weil wir immer bereit zum Eskapismus sind, zum Verdrängen. Mir geht es natürlich ganz genauso. Und deswegen muss ich mir vorher klarmachen: Was sind die Fragen bei dem Thema, vor denen ich Angst habe? Denen ich ausweichen möchte? Das ist ein langer Prozess und erst wenn das gelungen ist, kann es für mich gelingen, so ein Buch zu schreiben.

Ist Schreiben für sie also auch eine Möglichkeit, Themen für sich zu bewältigen?

Schreiben ist sehr viel mehr als eine Therapie. Gerade dieses Buch war handwerklich eine große Herausforderung. Da ging so viel Sorge, Sorgfalt, Genauigkeit und Recherche rein. Ich muss darüber nachdenken, wie ich das literarisch aufbaue, wie es trotz dieser Komplexität einfach zu verstehen ist und schön zu lesen.

Warum sind Ihnen Zitate von und Verweise auf Philosophie, Psychologie, Literatur etc. wichtig?

Es würde mir komisch vorkommen, mich 2023 hier hinzustellen und zu sagen: Also ich habe über Trauer, Verluste und Tod nachgedacht und das könnt ihr jetzt mal lesen. All das sind ja Themen, über die viele Menschen buchstäblich seit Jahrtausenden nachdenken. Es ist eine Art von Wertschätzung, eine wichtige Bescheidenheit, zu zeigen, dass so viele andere Menschen so wichtige Gedanken zu diesem Thema hatten. Aber ich möchte auch durchschauen: Worauf beruht unser Denken, was hat uns beeinflusst?

Schauen wir Ihnen da auch ein bisschen beim Denken zu?

Ja, diese Art zu schreiben, spiegelt auch mein Leben wider. Ich lese sehr viel und gerne und mein Denken spielt sich auch genauso ab. Ich führe manchmal innere Dialoge und ich lerne so viel aus Büchern. Und so zu tun als wären das alles nur meine Ideen, wäre für mich falsch und nicht redlich.

Über die Themen Trauer und Verluste lassen sich mehrbändige Wälzer schreiben. Wie finden Sie bei so großen Themen zu Ihrer reduzierten Form?

Natürlich gibt es ganz konkrete Fragen, die diese Bücher jeweils motivieren. Und natürlich ist „Die Zeit der Verluste“ kein Buch über die Kulturgeschichte der Trauer. Das sind immer nur Spotlights. Ich habe auch gar nicht den Anspruch, diese Themen ausführlich zu behandeln im Sinne von: Alle Fragen sind beantwortet. Der Punkt der Bücher ist, mich gerade an die Fragen zu wagen, die keine Antworten haben. Mich an die Probleme zu wagen, die keine Lösung haben und die auch keine haben werden. Ich werde jetzt in Interviews und auf Veranstaltungen häufig gefragt: Haben Sie nicht vielleicht so drei Tipps zum guten Trauern, zur Krisenbewältigung? Und natürlich habe ich die nicht, niemand hat die. Aber ich kann Anregungen und Impulse geben. Zeigen, wie wir uns diesen Dingen tatsächlich annähern können.

Es kommt eine schlimme Nachricht nach der anderen und sobald man denkt: Es kann gar nicht mehr schlimmer kommen, kommt der nächste Krieg oder das nächste wirklich erschütternde Ereignis.
Daniel Schreiber

Weil Sie sehr persönlich schreiben, hat man das Gefühl, Ihnen beim Lesen nahezukommen. Kennt man Daniel Schreiber, wenn man alle Ihre Bücher gelesen hat?

Man kennt natürlich bestimmte Seiten von mir und bestimmte Erfahrungen, die ich gemacht habe. Aber ich habe auch ein privates Leben, das nicht Teil der Bücher ist. Und auch nicht sein muss. Letztlich geht es in diesen Büchern nicht um mich, auch wenn das komisch klingt, weil ich viel von mir erzähle. Aber ich versuche nur zu zeigen, wie ich versuche, mich einer schwierigen inneren Arbeit zu stellen. Und das ist kein allgemeingültiger Weg, sondern das bin ich mit meiner biografischen und psychologischen Prägung, mit meinen Erfahrungen. Und ich hoffe, dass die Lesenden sich selbst die Fragen stellen, das für sich selbst, auf ihre Art durcharbeiten.

Kann man Ihre Bücher als zusammen gehöriges Gesamtwerk betrachten?

Für mich sind „Nüchtern“, „Zu Hause“ und „Allein“ eine Art inoffizielle Trilogie. Sie gehören zusammen. „Die Zeit der Verluste“ fällt da heraus. Deswegen wollte ich auch, dass es einen anderen Titel hat, also nicht ein einziges Wort. Das Buch ist auch völlig anders geschrieben. Natürlich erkennt man einen Ton wieder, einen literarischen Stil. Aber die anderen Bücher beschreiben ein Jahr meines Lebens, plus-minus ein paar Monate. Dieses Buch beschreibt einen Tag. Es ist in der Gegenwartsform geschrieben, es gibt Rückblicke und Zukunftsausblicke. Das ist schon eine völlig andere Art von Essay. Es war mir wichtig, für dieses Thema einen neuen Zugang zu finden.

Eigentlich wollten Sie ja auch mal einen Roman schreiben ...

Das nächste Buch sollte tatsächlich ein Roman werden. Und ich arbeite auch weiter an diesem Roman. Er steht in einem Gegensatz zu dem essayistischen Schreiben, zu dieser dezidiert nicht-fiktionalen Form, die ich mir über so viele Jahre erarbeitet habe. Doch dann hat sich dieses Buch so reingestohlen und all meine Aufmerksamkeit beansprucht. Und vielleicht musste das so sein.


„Die Zeit der Verluste“, Hanser Berlin, 144 Seiten, 22 Euro. „Die Zeit der Verluste“ heißt auch eine lit.Cologne-Veranstaltung mit Daniel Schreiber und Mely Kiyak („Herr Kiyak dachte, jetzt fängt der schöne Teil des Lebens an“) am Mittwoch, 13. März 2024, um 21 Uhr in den Ehrenfelder Balloni-Hallen. Tickets kosten 22 (18) Euro im Vorverkauf und 28 (24) Euro an der Abendkasse.

Daniel Schreiber, geboren 1977, ist Schriftsteller, Übersetzer und Kolumnist bei Weltkunst und Zeit am Wochenende. Mit seinen Büchern „Nüchtern“ (2014) und „Zuhause“ (2017) hat er eine neue Form des literarischen Essays geprägt. Sein Buch „Allein“ (2021) stand monatelang auf der Spiegel-Bestseller und Sachbuch-Bestenliste und war auch international ein großer Erfolg. Er lebt in Berlin.