AboAbonnieren

„Bérénice“ auf der RuhrtriennaleWarum Isabelle Huppert in Paris verlacht, aber in Duisburg verehrt wird

Lesezeit 4 Minuten
Wärme spendet ihr nur ein schmaler Heizkörper, Bérénices (Isabelle Huppert) Mann will lieber römischer Kaiser werden.

Isabelle Huppert in der Rolle der Bérénice auf der Ruhrtriennale 2024.

Romeo Castellucis Inszenierung des Klassikers von Racine spaltet die Gemüter. Aber auf der Ruhrtriennale erntete Isabelle Huppert Ovationen.

Im Pariser Théâtre de la Ville, berichtet der „Figaro“ vom 2. April dieses Jahres, kam es bei einer Aufführung von Romeo Castelluccis Inszenierung von Jean Racines „Bérénice“ zu tumultartigen Szenen. „Man versteht nichts von dem, was du sagst, Isabelle“, blaffte ein gelangweilter Zuschauer Isabelle Huppert an, den Star des Abends. Worauf sich andere bemüßigt fühlten, die Schauspielikone lauthals zu verteidigen.

Als kurz darauf ein Dutzend Statisten die Hosen herunterließen, bekam ein anderer Zuschauer einen Lachanfall und riss etliche andere mit. Am Ende wetteiferten Begeisterte und Buhende miteinander, noch nach der Vorstellung lieferte man sich vor Wortduelle, drohte mit Handgreiflichkeiten.

Dieselbe Produktion, anderer Ort: In der Kraftzentrale im Landschaftspark-Nord erhebt sich das Publikum der Ruhrtriennale nahezu einhellig, huldigt nach 100 Minuten gemeinsamer Anstrengung einer großen Tragödin. Es wird nicht jedem gefallen haben, aber offensichtlich ist man in Duisburg kulturell aufgeschlossener als in der Olympiastadt. Oder liegt es eher daran, dass das deutsche Publikum Bühnenexperimente gewohnt ist, während in Frankreich, wo Racine als unsterblicher, unantastbarer Klassiker gilt, noch das absolute Primat des Textes herrscht?

Isabelle Huppert spricht einen einsamen Monolog der Liebe

Dabei verkörpert Isabelle Huppert die Bérénice weniger, als dass sie ihre Rolle im Sprechen erschafft. Es ist ein Monolog der Liebe, eine einsame Klage, wie ihn etwa Roland Barthes in der Vorrede zu seinem viel gelesenen Buch „Fragmente einer Sprache der Liebe“ beklagt, ein Diskurs, abgeschnitten von der Macht und ihren Mechanismen. Anfangs ist Hupperts Stimme elektronisch verfremdet wie ein Signal aus weiter Ferne.

Romeo Castellucci hat sämtliche handelnde Charaktere der Tragödie gestrichen, außer der jüdischen Prinzessin. Die beiden Männer, die sie lieben – Titus, der künftige Kaiser Roms, und sein Freund Antiochos – lässt der italienische Regisseur von zwei tannenschlanken Tänzern (Giovanni Manzo, Cheikh Kébé) darstellen. Der eine ist blond und bleich, der andere schwarz, sie sind weniger Charaktere als Pole, in deren Spannungsfeld sich Bérénice auflädt.

Über die maximalen Auslenkungen ihrer Gemütsschwingungen erstreckt sich die ganze Welt des barocken Dramas. Castelluccis riesiger, von einem Gaze-Vorhang verschleierter Guckkasten präsentiert eine Abfolge berückend schöner Tableaus, Traumlandschaften aus verrätselten Symbolen und Alltagsgegenständen, ein Basketball, eine Waschmaschine, ein Heizkörper, an dem Bérénice Halt sucht.

Wer das Stück von Racine nicht kennt, wird ahnungslos bleiben

Und diese – im aufregenden Sound- und Musikdesign von Scott Gibbons mal elektrisch knisternde, mal dumpf grollende – gemäldeartige Gefühlslandschaft scheint überhaupt erst durch den hochgeschraubten Ton von Racines Alexandriner-Versen zu entstehen. Dieser Ton trägt die Hörenden über Abgründe und der Unterschied zwischen den Beschwörungsformeln, die man aus Hupperts Mund vernimmt und den eher prosaischen deutschen und englischen Übertiteln, ist frappierend.

Wer das in Deutschland nur selten aufgeführte Stück nicht kennt und auch nicht den Zettel mit der Zusammenfassung des Inhalts gelesen hat, der auf jeden Sitz bereitliegt, wird ahnungslos bleiben. Dass Titus zusammen mit Bérénice siegreich aus dem Ersten Jüdischen Krieg nach Rom zurückgekehrt ist, dass er ihr die Heirat zwar versprochen hatte, aber aus Gründen der Staatsräson verzichtet, dass die Verschmähte schließlich erhobenen Hauptes Rom verlässt, nachdem sie sich ein letztes Mal der Liebe des künftigen Kaisers versichert hat – all dies können Zuschauende unmöglich aus dem Bühnengeschehen herleiten.

Das macht aber gar nichts. Das Stück ist sowieso völlig undramatisch, zumindest, wenn man von der äußeren Handlung ausgeht: „Hier geschieht absolut nichts: Die Sprache blockiert alles“, sagt Castellucci im Programmheft. Was man in seiner Installations-artigen Inszenierung hört und sieht, ist jedoch völlig klar: Anfangs wird die chemische Zusammensetzung eines menschlichen Körpers vom größten zum kleinsten Prozentsatz eingeblendet, bei „Gold“ erscheint Bérénice. Im Sprechen wirft ihr Körper innerlich Falten, übersteigt in der Summe seine einzelnen Teile, bildet über die Sprache des Begehrens kleine Origami-Motive der Seele aus. Die Huppert deklamiert zuerst noch recht trocken, verhandelt mit dem abwesenden Geliebten, steigert sich dann aber immer weiter in die Raserei der Verse hinein. Als sie ihre letzten Verzichtsworte spricht, haben sich hinter ihr Statisten zu einem Blumen-Stillleben aufgestellt, das langsam seine Blätter verliert.

Dann kniet sie nieder und die Wörter verlassen immer zögerlicher ihren Mund, sie presst sie nur noch mit größter Mühe heraus, als blockierte die Sprache nun auch sich selbst. Endlich erhebt sich Bérénice und schleudert dem Publikum ein wütendes „Ne me regarde pas!“, „Schaut mich nicht an!“, entgegen.

Der Ausruf wird gesamplet, wiederholt und verrauscht, bis er nur noch Geräusch ist. Jetzt versteht man wirklich nichts mehr von dem, was sie sagt, aber das ist kein Grund, ausfällig zu werden. Es war ein gelegentlich sperriger, aber stets berauschender Theaterabend, mit einer phänomenalen Isabelle Huppert.