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Bach-Festival KölnSeefahrt ohne Ziel und Mittelpunkt

Lesezeit 3 Minuten
Midori Seiler

Die Geigerin Midori Seiler trat am musikalischen Nachmittag in der Mülheimer Friedenskirche auf

Christoph Spering feierte „Bach und drei Jubilare“ in der Mülheimer Friedenskirche.

Die Musik von Johann Sebastian Bach steht selbstverständlich im Zentrum des „Bach-Fests für Köln“ und im Schaffen von dessen künstlerischem Leiter Christoph Spering. Der langjährige Kantor an der evangelischen Friedenskirche in Köln-Mülheim spielte mit dem von ihm gegründeten und geleiteten Chorus Musicus und Neuen Orchester Köln sämtliche Bach-Kantaten des Jahrgangs 1724 ein. Dreihundert Jahre später präsentierte nun ein ebenso langer wie kurzweiliger Nachmittag in der Mülheimer Friedenskirche Werke des Barockmeisters im Wechsel mit Musik der aktuellen Jubilare 2024: Anton Bruckner, Franz Schmidt und Arnold Schönberg.

Geigerin Midori Seiler begeisterte mit Solo

Geigerin Midori Seiler und Cembalist Christian Rieger eröffneten mit Bachs Sonate G-Dur für Violine und Basso continuo. In deren erstem Satz „Adagio“ bilden die Phrasenenden aller melodischen Abschnitte zugleich janusköpfig den Anfang der jeweils nachfolgenden Passagen, sodass sich sämtliche Glieder zu einer nahtlosen Perlenschnur verketten, nicht zuletzt auch dank der wunderbar stimmigen Agogik und Phrasierung des bestens aufeinander eingespielten Duos. Ganz allein begeisterte Seiler mit Bachs Solopartita d-Moll BWV 1004, deren tänzerischen Schwung und Fluss sie bei allen Differenzierungen im Detail stets lebendig hielt. Mit ihrem ebenso gestisch und expressiv verinnerlichten Spiel – alles auswendig vorgetragen! – zog die Geigerin in Bann, vor allem mit der sagenhaften Schluss-„Chaconne“, die alle vier vorherigen Sätze an Ausdruck, Kunstfertigkeit und Dauer übertrifft.

Einen ganz anderen Sog entfaltete Rieger mit Bachs obsessiver Fantasia a-Moll BWV 922. Das Stück verbeißt sich in zwei einfache Kadenzwendungen, die wie Scharniere die Möglichkeit erlauben, unablässig von einer Harmonik zur nächsten zu modulieren. So wie damals die europäischen Kolonisatoren den Erdkreis in allen Himmelsrichtungen durchkreuzten, schiffen auch Bachs Modulationen dank der gleichschwebenden Temperatur des Klaviers in einem fort ohne Ziel, Rast und festen Hafen durch den Quintenzirkel. Und so wie der Globus damals seinen territorialen Mittelpunkt und die Seefahrer auf den Weltmeeren den festen Boden unter den Füßen verloren, verlieren auch die Musik ihr tonales Zentrum und mit ihr das Hören seine harmonikale Grundlage. Bräche die uferlos kreisende Fantasie nicht irgendwann einfach ab, würde man seekrank.

Martin Schmeding kontrastierte mit gelungener Orgel-Adaption

Stilistische und instrumentale Kontrapunkte zu Bach setzte Organist Martin Schmeding mit dem packenden „Vorspiel und Fuge“ des damals 23-jährigen Linzer Organisten Bruckner sowie einer eigenen Transkription von Beethovens „Fantasie“ op. 77. Die Adaption dieser originalen Klaviermusik gelang bestens auf der Woehl-Orgel, mit deren durchweg plastischem und transparentem Klangspektrum, vor allem den kristallklaren Sopranregistern und dem hauchzarten Piano. Schönbergs „Variationen über ein Rezitativ in D“ changieren freitonal um den Zentralton D, der schließlich nach vielen unentschiedenen Wechseln zwischen Dur und Moll in strahlendem D-Dur triumphiert. Ebenso packend spielte der fantastische Martin Schmeding die furiose „Toccata“ C-Dur des wie Schönberg 1874 geborenen österreichischen Komponisten Franz Schmidt. Stehende Ovationen für alle drei Instrumentalisten.