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Bataclan-Attentat in ParisTerroristen töteten seine Frau, aber hassen will er sie nicht

Lesezeit 7 Minuten
Antoine Leiris im Gespräch mit Christian Bos vom Kölner Stadt-Anzeiger, 2016

Antoine Leiris im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“

Der Journalist Antoine Leiris hat ein bewegendes Buch über die Trauer um seine Frau geschrieben, die im November 2015 bei dem Terroranschlag im Bataclan starb.

Antoine Leiris, je älter man wird, desto schneller scheint ein Jahr zu vergehen. Dann schaut man seine Kinder an und denkt: Es ist sehr viel passiert. Vor einem Jahr töteten die Attentäter im Bataclan ihre Frau Hélène, seitdem leben Sie allein mit dem gemeinsamen Sohn Melvil. Wie nah oder entfernt erscheint Ihnen dieses schreckliche Ereignis?

Antoine Leiris: Es sind exakt diese beiden Seiten: Manchmal kommt es mir so vor, als sei es gestern gewesen, manchmal scheint eine Ewigkeit vergangen zu sein. Aber die Gefühle, die ich damals hatte, sind noch genauso stark, nicht anders als vor einem Jahr. Und wenn mich diese Gefühle übermannen, dann ist es, als wäre erst eine Sekunde vergangen.

Was hat sich für Sie und Melvil in diesem Jahr verändert?

Wie Sie sagten, die Kinder verändern sich natürlich. Aber es gibt kein Gefühl für diese Veränderung, nichts Drastisches. Mir ist aufgefallen, dass mein Sohn und ich zusammen erwachsen geworden sind. Wir sind gemeinsam groß geworden in diesem Jahr.

Sie haben direkt nach ihrem Facebook-Post mit dem Schreiben begonnen. War das Schreiben für Sie eine Art des Trauerns?

Ich hatte mir vom Schreiben nichts erwartet. Ich musste es tun. Ich brauchte Luft zum Atmen, brauchte diese Momente, um zu verstehen. Während ich tippte, konnte ich diese Welt rekonstruieren, Ordnung in mein Gefühlschaos bringen.

Wie eine Unterhaltung mit sich selbst, die man mit niemand anderen führen kann?

Nein, es ist eigentlich kein Gespräch mit mir selbst. Mein Verhältnis zur Welt funktioniert nicht über das gesprochene, sondern über das geschriebene Wort. Ich rede mündlich nicht gerne darüber, was ich fühle, weil ich jedes Mal die falschen Worte wähle. Schreibe ich, finde ich immer das richtige Wort. Das geschriebene Wort ist meine Tür zur Welt, es bringt diesen Moment der Ordnung.

Ich rede mündlich nicht gerne darüber, was ich fühle
Antoine Leiris

Als mich die Nachrichten von den Anschlägen erreichten, kam ich gerade von einem Konzert. Die Eagle of Death Metal sollten vier Tage später in Köln auftreten. Das war unglaublich nah. Ich fühlte Trauer - und nicht wenig Hass. Wie konnten Sie, der sie unmittelbar betroffen waren, diesen Hass überwinden?

Paradoxerweise war es für mich weniger schwierig, diesen Hass auf Abstand zu halten. Ich hatte keine Wahl. Für mich ist dieses Gefühl viel gefährlicher als für Sie. Ich sitze im Auge des Sturms. Wenn ich das Gefühl des Hasses dort einmal hereinlasse, komme ich nie wieder heraus. Ich wusste, dass ich von Anfang an widerstehen musste, weil ich den Hass sonst nie hätte überwinden können. Ich bin nur derjenige, der öffentlich davon gesprochen hat. Aber die meisten Betroffenen haben den gleichen Impuls, den Hass nicht zulassen zu dürfen, weil man ein Licht braucht, das einem aus dem Auge des Sturms herausführt. Ich verweigere meinen Hass weniger für die anderen als vielmehr aus Selbstschutz.

Im Buch wählen Sie Ihre Worte sehr sorgfältig. Fast könnte man meinen, dass ein längeres, aber weniger präzises Buch im Hintergrund stand. Wie sah ihr Schreibprozess aus?

Ich wusste sehr schnell, wo das Buch enden würde, mit der Szene am Friedhof. Das Buch hatte also schon mal eine Grenze: Ich erzähle nur von den ersten 13 Tagen. Mir gingen noch viele andere Dinge durch den Kopf, aber ich habe sie nie aufgeschrieben. Um zu entscheiden, was aufgeschrieben wird, gab es zwei Kriterien: Zum einen, schreibe ich über nichts, was nur mich und meinen Sohn betrifft. Die Intimsphäre, die nur wir beide mit Hélène teilen, die geht niemand sonst etwas an. Zum anderen habe ich die anekdotischen Szenen im Buch genauso ausgesucht, dass sie zwar aus dem Alltag stammen, aber eine doppelbödige Bedeutung für Menschen haben, die lieben oder trauern. Ohne große Worte wählen zu müssen. Ich will nicht die Leute von oben herab belehren.

Sie beschreiben das Treffen mit einem Freund, der den Anschlag im Bataclan erlebt hat, der bei Ihrer Frau war, als sie starb. Aber diese letzten Momente enthalten Sie dem Leser vor.

Ich weiß nicht, ob es mir gelungen ist, aber ich habe versucht, nur das Wichtige, das Wesentliche zu erzählen. Ich wollte auf keinen Fall eine voyeuristische Neugier wecken und befriedigen.

Die Dschihadisten des Islamischen Staates bekennen sich zu einer Reihe koordinierter Anschläge von Bewaffneten und Selbstmordattentätern in Paris, bei denen mindestens 132 Menschen in einer Konzerthalle, in Restaurants und im Nationalstadion getötet wurden.

Menschen gedenken der Opfer der Pariser Anschläge auf dem Place de la Republique in Paris am 15. November 2015.

„Meine Wörter gehören mir schon nicht mehr“, haben Sie geschrieben, nachdem Sie Ihren Facebook-Post abgeschickt haben. Nach einem Jahr im Licht der Öffentlichkeit, in dem Sie die immer gleichen Fragen beantwortet haben, müsste sich dieses Gefühl erheblich verstärkt haben?

Dieses Buch veröffentlichen zu können, ist das Geschenk, das mir das Leben gemacht hat. Weil die Wörter weiterleben. Ich trage nicht mehr die Verantwortung. Ich hätte ein Buch für mich schreiben können, aber das hätte nie geendet. Von dem Moment an, wo ich das Buch abgeben konnte, wo es redigiert wurde, hat es ein Eigenleben entwickelt. Das war ein Wendepunkt in meinem Leben. Morgen gebe ich mein letztes Interview. Dann ist der Jahrestag. Und ab Montag werde ich nicht mehr öffentlich sprechen. Aber die Wörter werden weitersprechen. Ich war nur die Hebamme dieser Wörter.

Was werden Sie vom nächsten Montag an tun, welche Pläne haben Sie?

Ich werde jeden Tag, wenn mein Sohn in der Kinderkrippe ist, vier Stunden schreiben. Ich möchte ein neues Buch schreiben. Das wird sehr schmerzhaft werden, aber auch sehr aufregend. Und ich werde mir einen neuen Job suchen müssen, als Journalist, ich muss ja auch meinen Unterhalt verdienen.

In den ersten Tagen der Trauer fühlten Sie sich wie abgetrennt von der Normalität, vom Alltag. Ist dieses Gefühl geblieben?

Eigentlich habe ich sehr schnell wieder zurück in den Alltag gefunden. Das Buch war dabei sehr hilfreich. Aber in den ersten Tagen hatte ich mich gefragt, wie die Welt es wagen kann, sich einfach weiter zu drehen? Wo meine Welt doch aufgehört hatte zu existieren. Aber die Welt holt einen wieder ein. Und man muss auf diesen Zug aufspringen. Ich habe ja die Verantwortung für meinen Sohn.

Wie viel Normalität lassen Sie zu? Gehen Sie wieder auf Konzerte?

Aber ja.

An diesem Samstag wird das Bataclan in Paris mit einem Konzert von Sting wieder eröffnet. Werden Sie dorthin gehen?

Nein, aber nicht wegen des Ortes. Ich war allerdings beim Eagles of Death Metal-Konzert im Olympia. Und, wissen sie, manchmal ist ein Konzert auch einfach nur ein Konzert. Alles kann auch ganz normal sein, diese Erkenntnis war für mich wichtig.

Die Welt wäre ein besserer Ort, hätte jeder die Stärke, die Sie bewiesen haben. Stattdessen haben wir einen US-Präsidenten Trump, Anschläge auf Flüchtlingsheime in Deutschland, Marine Le Pen in Ihrer Heimat. Macht es Ihnen Angst, in was für einer Welt Ihr Sohn aufwächst?

Ja, wie allen Eltern. Aber als Bürger ist man selbst dafür verantwortlich, nach welchen Werten man lebt. Auch wenn die Politiker gerade von Angst geleitetet werden. Ich will mich nicht von meiner Angst leiten lassen. Ich fange im Kleinen an: Ich werde nett zu meinen Nachbarn sein. Ich werde meinem Sohn beibringen, die Menschen so zu nehmen, wie sie sind, und nicht, wie man sie gerne hätte. Wir müssen verstehen, dass wir in einer Gemeinschaft leben, dass wir diese Gemeinschaft bilden.

Bei den Pariser Terroranschlägen vom 13. November 2015 wurden 131 Menschen von islamistischen Terroristen getötet. Die größte Anzahl an Opfern gab es im Musicclub Bataclan, in dem drei Angreifer mit Maschinengewehren das Feuer auf die 1500 Gäste eines Konzerts der US-Band Eagles of Death Metal eröffnen. Zu den 89 Todesopfern im Bataclan gehört auch Luna-Hélène Muyal, die Frau des Radiojournalisten Antoine Leiris, und Mutter des gemeinsamen, 17 Monate alten Sohnes Melvil.

Der Facebook-Post, den Antoine Leiris, Jahrgang 1981, wenige Tage nach den Pariser Anschlägen veröffentlichte, ging um die Welt: „Freitag Abend habt ihr das Leben eines außerordentlichen Wesens geraubt, das der Liebe meines Lebens, der Mutter meines Sohnes, aber meinen Hass bekommt ihr nicht. Ich weiß nicht, wer ihr seid, und ich will es nicht wissen, ihr seid tote Seelen. Wenn der Gott, für den ihr blind tötet, uns nach seinem Ebenbild geschaffen hat, dann muss jede Kugel, die den Körper meiner Frau getroffen hat, eine Wunde in sein Herz gerissen haben.“

Ein halbes Jahr später hat Leiris die ersten 13 Tage seiner Trauer in einem schmalen, hochkonzentrierten Band geschildert: „Meinen Hass bekommt ihr nicht“, Blanvalet Verlag, 144 Seiten, 12 Euro.