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Neuer Roman „Vernichten“So zärtlich kann Michel Houellebecq sein

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Michel Houellebecq 

Paris – Er habe sie satt, diese brotlosen Expeditionen, die einem nichts einbringen als blauen Flecken und Kreuzschmerzen. Klagt Michel Houellebecq im aktuellen Asterix-Band. Ach, nein, hier heißt er ja Terinconus (in der deutschen Ausgabe „Globulus“) und ist Kartograf des großen Julius Cäsar. Aber der trägt ganz eindeutig das traurige Gesicht des Autors von „La carte et le territoire“ (auf Deutsch als „Karte und Gebiet“ erschienen).

In einem Gallier-Comic karikiert zu werden, das ist selbstverständlich eine große Ehre. Und zeigt zugleich das Maß, in dem Houellebecq in seiner Heimat weniger als großer Literat, denn als Skandal-Promi und Volksschriftsteller rezipiert wird, dessen Auflagezahlen durchaus mit denen des beliebten bande dessinée mithalten können.

Dem Autor dürfte das ganz recht sein. In Houellebecqs neuem Werk „Vernichten“ hebt der Erzähler – er ist so allwissend und kommentarfreudig wie jene der großen Romane des 19. Jahrhunderts – immer wieder zum Lob der populären Kunst an. Spielt die Rockmusik gegen die akademische Avantgarde der Nachkriegszeit aus, zitiert pathetische Vor-der-Schlacht-Ansprachen aus „Herr der Ringe“, schmachtet Carrie-Ann Moss aus den Matrix-Filmen an – und lässt einen seiner Protagonisten, als dieser unheilbar erkrankt, Trost in Arthur Conan Doyles Sherlock-Holmes-Geschichten finden.

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Michel Houellebecq „Vernichten“ erscheint am 11.1. im DuMont Buchverlag, 624 Seiten, 28 Euro, E-Book 24,99 Euro

Und „Vernichten“ beginnt dann in der Tat wie ein digital upgedateter Holmes-Fall. Mit geheimnisvollen Videos, die sich als Pop-Up-Fenster auf Internetseiten verbreiten, rätselhafte Symbole und perfekt gerenderte Filme, die unter anderem die Guillotinierung des französischen Wirtschafts- und Finanzministers Bruno Juge zeigen. Das französische Publikum wird in dem Technokraten leicht dessen Spiegelbild in der wirklichen Welt, Bruno Le Maire, wiedererkennen. Angeblich sind Minister und Autor befreundet, seit Le Maire bei der Überführung von Houellebecqs toten Hund von Irland nach Frankreich bürokratische Schranken beiseite räumte. Le Maire dürfte sich über sein Porträt als selbstloser, uneitler Staatsdiener freuen.

Weniger gut kommt in „Vernichten“ der ebenso offensichtlich an Emmanuel Macron angelehnte Staatspräsident weg. Houellebecq schildert ihn als machthungrigen, intriganten Gecken. Als Macron Houellebecq vor drei Jahren mit der Ehrenlegion auszeichnete, tat er diese mit den Worten: „Sie sind populistisch, antieuropäisch, frauenfeindlich und trotzdem werden sie von einem fortschrittlichen, europäischen und feministischen Präsidenten ausgezeichnet werden.“ So viel Selbstgenügsamkeit rächt sich jetzt.

Kein bisschen lustig

Doch zurück zur eigentlichen Handlung: Der im kunstvoll gefälschtem Video exekutierte Juge befindet sich wohlauf und mit dem Wirtschaftsminister lernen wir auch seinen engsten Mitarbeiter kennen, Paul Raison, die eigentliche Hauptfigur des Romans. Der ist uns bereits im Kapitel zuvor als Mann ohne Eigenschaften und Überzeugungen vorgestellt worden, „ernsthaft, kein bisschen lustig“, aber „vernünftig“, nomen est omen.

Ein typisch-passiver Houellebecq-Antiheld also, gefangen in einer lieblosen Ehe mit Prudence, in der sich Paul mit einem kleinen Kühlschrankfach begnügen muss, in dem er seine fleischhaltigen Fertiggerichte aufbewahrt.

Das eng abgezirkelte Leben des Spitzenbeamten gerät ins Wanken, als ihn die Nachricht vom Zusammenbruch seines Vaters erreicht. Éduard Raison, einst hohes Tier beim französischen Inlandsgeheimdienst DGSI, war als Vater nicht weniger verschlossen und arbeitsversessen als sein Sohn. Paul muss zu ihm, in die Provinz Beaujolais, und die Geschichte biegt vom Spionage-Thriller (den sowieso niemand von Houellebecq erwartet hatte) ab zum Familienroman.

Frankreich im Kleinen

Die Raisons sind Frankreich im Kleinen: Paul repräsentiert das Zentrum der etablierten Macht; seine Schwester Cécile und ihr Mann Hervé leben im armen Norden, sie sind tief katholisch und wählen das Rassemblement national, also stramm rechts; der jüngste Bruder Aurélien ist eine verzärtelte Künstlerseele, von seiner Frau, der linken Journalistin Indy, wird er gnadenlos terrorisiert. Madeleine, die Lebensgefährtin des Vaters, verkörpert das entgegengesetzte Frauenbild: Aufopferungsvoll und größtenteils stumm. Die zweite Frau, die in „Vernichten“ ähnlich gut wegkommt, ist eine verständnisvolle High-Class-Prostituierte. Da möchte man Emmanuel Macron enthusiastisch beipflichten.

Man kann in dieser Figurenverteilung die übliche reaktionäre Polemik des Autors erkennen. In Gestalt einer hübschen Krankenschwester aus Benin gibt es zudem die rechte Klischeefigur der „guten“ Ausländerin, Houellebecq weist ihr ein Apartment in einem „eindeutig islamistisch geprägten Viertel“ zu, wo sie sich in dem kurzen Rock, den sie zu einem Rendezvous angezogen hat, äußerst unwohl fühlt.

Die Maske des Reaktionärs

Nun ja, das ist im Grunde alles so, wie man es vom Autor der „Unterwerfung“ erwartet. Allerdings noch lange kein Grund, das Buch empört beiseitezulegen, denn wie stets hat sich Houellebecq die Maske des Reaktionärs nur übergestülpt, um einige unbequeme Wahrheiten über Frankreich und die auseinanderdriftenden Gesellschaften des Westens aussprechen zu können. Hinter dieser Maske aber verbirgt sich, man lese nur seine mal naiven, mal hellsichtigen Essays, ein tiefkatholischer Konservativer, dessen Pessimismus aus der den Le-Pen-Wählern entgegengesetzten Gewissheit rührt, dass kein Weg ins Paradies zurückführt. Oder, wie er es formuliert: „Gott will mich nicht.“

Derweil sind die Video-Hacker zu scheinbar willkürlichen, jedoch mit enormer technischer Expertise ausgeführten Terroranschlägen übergegangen, außerdem steht noch ein Wahlkampf an, mit einem gefährlich gewandten Kandidaten des Rassemblement national. Ein entscheidender Hinweis auf die Identität der Terroristen könnte sich in den Papieren des Geheimdienst-Vaters finden, doch der befindet sich nach seinem Schlaganfall im Wachkoma.

Zwischen Tolstoi und „Tim und Struppi“

So mäandert „Vernichten“ zwischen Tolstoi und „Tim und Struppi“, geschichtsphilosophische Thesen verbinden sich mit zwischenmenschlichen Szenen und bewusst hanebüchener Kolportage zu einer Expedition durch die Dekadenzjahre der Demokratie, die dem Leser doch sehr viel mehr einbringt, als blaue Flecken und Kreuzschmerzen. Es ist das zutiefst menschliche Porträt einer entmenschten Gesellschaft.

Umso mehr, als auf den letzten hundert Seiten Politik, Soziologie und Polemik in den Hintergrund treten und sich ausgerechnet Pauls vom Erzähler anfangs harsch als reizlose Veganerin mit Esoterik-Macke beschriebene Frau Prudence – was für ein Name, übrigens, „Prudence Raison“ – als schlagendes Herz des Romans entpuppt.

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Da geht es dann schon um die letzten Dinge, im Angesicht des Todes blüht das von der Vernunft kastrierte Leben noch einmal auf. Die verschiedenen Fäden seiner Handlung lässt der Autor souverän baumeln, sie waren letztlich nur Genre-Gerüste, mit deren Hilfe er eine Kathedrale der Liebe gebaut hat, zärtlicher als auf diesen letzten Seiten von „Vernichten“ hat man Houellebecq noch nicht erlebt.