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Jonathan Franzens neuer RomanWenn Moral der Gipfel der Selbstsucht ist

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Jonathan Franzen 

Hamburg – Als der schwarze Bluessänger Robert Johnson Anfang der 1960er vom weißen Publikum „entdeckt“ wurde, war er bereits seit mehr als zwei Jahrzehnten tot. Über sein Leben wusste man wenig. Wo biografische Daten fehlten, übernahm die Legende. Speziell diejenige, welche den jungen Musiker an einer nächtlichen Weggabelung irgendwo in Mississippi verortet, wo er auf den Teufel trifft. Der Versucher schenkt Johnson unerreichte Meisterschaft auf der Gitarre, im faustischen Austausch für seine Seele.

Nach der mythischen Weggabelung hat Jonathan Franzen seinen neuen Roman betitelt: „Crossroads“. So heißt auch die protestantische Jugendgruppe der First Reformed-Gemeinde von New Prospect, einem (fiktiven) Vorort von Chicago. Den Namen hat sich Russ Hildebrandt, der Pfarrer, selbst ausgedacht. Er ist Bluesfan, verachtet die britischen Beat-Bands, die den Schmerz der Schwarzen nur nachgeäfft hätten, hat aber keine Probleme damit, sich selbst bei deren Leiden zu bedienen, um vor einer attraktiven, jungen Witwe schönzutun.

Russ Hildebrandts tiefe Kränkung

Natürlich ist Hildebrandt verheiratet, natürlich unglücklich, aber eigentlich geht es ihm vor allem darum, die tiefe Kränkung zu kitten, die seiner Selbstachtung widerfahren ist. Die von ihm gegründete Jugendgruppe hat ihn nämlich ausgeschlossen und ist zum coolen jungen Pfarramtsanwärter Rick Ambrose übergelaufen, langhaarig, charismatisch mit Fu-Manchu-Bärtchen – wir schreiben die frühen 1970er.

Von seiner eigenen Gruppe als frömmelndes Relikt ausgeschlossen (später erfahren wir, dass er daran nicht ganz unschuldig ist), gerät Russ Hildebrandts moralischer Kompass gewaltig ins Kreiseln. Selbst seine vier Kinder, mit Ausnahme des Jüngsten, strafen ihn mit Verachtung. Seine Tochter Bess, designierte Prom-Queen ihrer High School, entdeckt plötzlich ihre religiöse Ader und schließt sich ausgerechnet Rick Ambrose an. Sein ältester Sohn Clem provoziert den Pazifismus seines Vaters, indem er in der Hochphase des Vietnamkrieges die Uni abbricht und sich freiwillig zur Armee meldet.

Psychisch labiler Kiffer

Und Perry, der hochbegabte aber psychisch labile Kiffer (und später Kokainist), beobachtet das unweigerliche Auseinanderdriften seiner Familie sowieso mit dem gleichen wissenschaftlichen Interesse, das ein Geologe der Bewegung der Kontinente entgegenbringt: In einer Familie aus Franzen-Avataren ist er der David Foster Wallace, der genialische, früh durch eigene Hand gestorbene beste Freund und Hauptkonkurrent des Autors.

Klar, Franzen, denkt man, dessen Werk ist doch synonym mit dysfunktionalen Familien, mit Vororten im Mittleren Westen. Die Lamberts (aus „Die Korrekturen“), die Berglunds (aus „Freiheit“) und wie sie alle heißen. Aber da denkt man falsch. Eher könnte man sagen, dass „Crossroads“ die Antithese zu Franzens vorhergehenden Roman, „Unschuld“ (2015) ist, mit seinen globalen Intrigen und deutschen Wiki-Whistleblowern, die sich im bolivianischen Urwald verstecken.

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Hier dagegen geht es um kleine, unwichtige, nach außen hin unauffällige Leute. Während die Hippies den Kater der Sixties pflegen, helfen sie immer noch in der örtlichen Gemeinde aus. Es sind Menschen mit festen Überzeugungen, Menschen, die an Gott glauben wollen, auch wenn sie es nicht tun, die aber dennoch stets die ethisch richtigen Entscheidungen treffen wollen. Und sich zugleich fragen, ob ihr Verhalten nicht insgeheim der Gipfel der Selbstsucht sei. Es führt sie allesamt in allerlei (Beinahe-)Katastrophen – aber letztlich auch wieder aus diesen hinaus.

Man darf „Crossroads“ als großen amerikanischen Roman bezeichnen, ja, er ist so uramerikanisch wie gedeckter Apfelkuchen und der Bart von Abraham Lincoln. Und doch ähnelt das Buch in seiner ganz und gar moralisch durchwirkten Weltsicht am ehesten den großen russischen Romanen des 19. Jahrhunderts.

Dicklich, depressiv und rasend

Jedes Familienmitglied der Hildebrandts ist ein heimlicher Karamasow-Bruder, eine innere Welt aus Sinnsuche und Selbstbestrafung, und ausgerechnet Marion, Russ’ dickliche und depressive Ehefrau, entpuppt sich als späte Nachfahrin von Dostojewskis rasenden Gottessuchern und -herausforderern.

Im ersten Viertel des 800-Seiten-Romans versteckt sie sich noch in Nebensätzen, die Kinder arbeiten sich vor allem am Vater ab, Marion ist nur irgendwie da. Tatsächlich schläft in ihr ein Monster, die ungeliebte Tochter eines Bankrotteurs und Selbstmörders, zerrissen von überzogenen romantischen Vorstellungen und mörderischen Absichten, die in der Kirche und deren Stellvertreter Russ ihr Heil vor Geisteskrankheit und schäbigen Affären gesucht hat. Es ist ein wilder Ritt.

Erster Teil einer Trilogie

„Crossroads“ ist der erste Teil einer Trilogie mit dem Titel „Ein Schlüssel zu allen Mythologien“. So heißt auch das Großwerk, dem ein Pfarrer in George Eliots „Middlemarch“ Jahrzehnte seines Lebens widmet. „Eine Studie über das Leben in der Provinz“ hatte Eliot ihren Roman genannt.

Dass Jonathan Franzen, der als Kind des Mittleren Westens eine „Crossroads“ ähnliche Jugendgruppe besuchte, gerade hier den Schlüssel zu höheren Wahrheiten findet, verwundert nicht. Aber jede Seite dieses herrlich uncoolen Romans ist ein kleines Wunder.