Das jährliche Campus-Projekt des Beethovenfests probte in Braga, Portugal – dort lebt das afghanische ANIM-Orchester im Exil. Wir waren dabei.
BeethovenfestMusiker aus drei Ländern wachsen beim Campus-Projekt zu einem Orchester zusammen
Aman zieht den Bogen über die Saiten. Erst langsam, Ton für Ton, melodisch. Dann ein energischer, lauter Ratsch. Der junge Musiker vertont das Wort „Dolch“. „Was blieb mir denn von dir, mein Vaterland? / Nichts außer einem Dolch in meiner Brust“, lautet der Beginn des Gedichts „Das Leid überschreitet die Grenzen“ von Mariam Meetra, im Original auf afghanischem Persisch. Dieser Dolchstoß schmerzt die Zuhörenden. Aman wohl noch viel mehr: Der 18-jährige Violinist ist selbst aus Kabul geflohen.
Jetzt wohnt Amanullah Noori, so heißt er eigentlich, in Braga nahe Porto. Und sitzt in einem klimatisierten Konferenzraum eines Hotels mitten in der Altstadt, Rücken an Rücken mit Darius. Der 16-Jährige ist Geiger im Bundesjugendorchester (BJO), sie nehmen an einem Workshop teil. Darius Schmelzer erwidert den Dolchstoß mit einem noch härteren Aufschrei, so hört sich der brutale Ton seiner Saiten an.
Die nächste Improvisationsübung: Gegeneinander spielen. Darius fordert Aman heraus. Darius wird schneller, will die Führung dieses ungleichen Duetts übernehmen. Aman hält mit, zwingt seinen Kontrahenten, das Tempo wieder zu bremsen.
Erste Probenphase des Campus-Projekts des Beethovenfests in Portugal
Darius ist mit weiteren Mitgliedern des BJO für das Campus-Projekt vom Beethovenfest und der Deutschen Welle nach Braga gereist. Seit 2001 ermöglicht es diese Kooperation jungen Orchestern aus dem Ausland auf großen Bühnen aufzutreten. Der Deutsche Musikrat ist seit 2015 Projektpartner. Schwerpunktländer sind dieses Jahr Afghanistan und Iran. Die erste Probenphase des BJO mit dem Afghanistan National Institute of Music (ANIM), wo Aman zugehört, und iranischen Musikerinnen der Barenboim-Said-Akademie findet im portugiesischen Braga statt.
273 Schülerinnen, Schüler und Lehrkräfte des ANIM leben hier im Exil. Ahmad Sarmast, Musikwissenschaftler und Leiter des Instituts, das seit der Gründung 2010 ein Hoffnungsträger für den Wandel im Land ist, organisierte ihre Flucht vor den Taliban. Darunter war auch das Frauenorchester Zohra, ein Grund mehr, wieso Sarmast ein Dorn im Auge der Terrorgruppe ist.
Schüler Aman will professioneller Violinist werden. Aber die Taliban verbieten Musik. Er erinnert sich an den 15. August 2021, als sie die Macht in seinem Land übernahmen. Aman holte seine Geige aus der Schule und ging zu Fuß nach Hause. Taxen und Busse fuhren nicht mehr. Die Geige musste er verstecken. Zwei Monate später floh er aus dem Land.
Zunächst nach Qatar. Aman gehört zu den ersten Schülerinnen und Schülern von Sarmast, die Afghanistan verlassen konnten. Aus Angst, erzählt er, ließen sie ihre Instrumente zurück. Erst als sie Asyl in Portugal erhielten, das erste Land, das sie nach zahlreichen Absagen – unter anderem von Deutschland und den USA – aufnahm, überreichte eine Freundin ihm seine Geige wieder. Die Mitschülerin floh einige Wochen nach ihm und Amans Vater hatte es geschafft, ihr die Geige für seinen Sohn mitzugeben.
„Mein Instrument ist mein Leben“, sagt Aman in Braga. Beim Spielen fallen ihm die langen Haare vors Gesicht, verdecken seinen Ausdruck. Den legt er in die Musik. „Ich will meinem Land zeigen, was Musik ist, ihm zeigen, dass man frei sein kann.“
Die Musiker und Musikerinnen mit ihren verschiedenen Hintergründen und unterschiedlichen Leistungsniveaus zusammenzubringen, ist keine leichte Aufgabe. Cymin Samawatie nimmt sich ihrer als musikalische Leiterin des Projekts an. Die deutsch-iranische Sängerin und Komponistin lässt die Herausforderung als ein vielversprechendes Spannungsfeld erscheinen.
Diriengtin Cymin Samawatie bringt Kulturkreise über Improvisation zusammen
Eine Besonderheit des Projekts ist, dass es nicht auf Englisch funktioniert, sondern auf Deutsch und Persisch. Wie Meetras Gedicht Grenzen überschreitet, auf beiden Sprachen in die Musik des Projekts einfließt, passen Grenzen auch nicht zu den Lebensgeschichten der Musiker.
Auch Darius ist nicht als deutscher Geiger angereist. Seine Mutter stammt aus Teheran, er spricht also Farsi, die arabische Bezeichnung für das Persische. „In der klassischen Musikwelt ist dieser Kulturkreis unterrepräsentiert“, sagt Darius. Samawatie aber bindet die Trommeln Daf und Tabla, die afghanischen traditionellen Instrumente Sitar und Rubab oder iranische Kamantsche genauso ein wie Querflöten, Klarinetten und Celli.
Mit dem Campus-Projekt geht ein Kompositionsauftrag einher. Aus den Ideen, die Aman und Darius als Vertonung des Gedichts von Meetra ausprobieren, soll für das Beethovenfest ein Stück entstehen. Mehr noch, Samawatie wird mit den Musikerinnen und Musikern der drei Orchester ein ganzes Programm auf Basis von Improvisation zeigen.
Diese kollektive Erarbeitungsform auf Augenhöhe praktiziert Samawatie bereits mit dem Trickster Orchestra, aus dem sie Musikerinnen mit nach Portugal nahm. Eine von ihnen ist Mona Matbou Rihai, die Klarinettistin leitet im Konferenzraum des Hotels den Workshop an, indem Aman und Darius sitzen. Sie nutzt Meetras Gedicht als roten Faden. „In schweren Koffern auf der Flucht / Salzige Flüsse von Tränen“, heißt eine weitere Zeile. Mona schreibt „Fluss“ auf eine Flipchart. Sie wird Ersatz für ein Notenheft.
Nach dem schmerzhaften Dolchstoß spielen Aman und Darius nun melodischere Motive. Sie lassen sie ineinander übergehen. Noch immer schwingt eine schmerzhafte Schwere mit. „Ich komme ohne Erwartung, ich gehe rein wie in ein Laboratorium oder auf einen Spielplatz“, sagt Mona.
Mona lässt den Marker fallen und greift zu ihrer Klarinette, sie spielt mit. In ihrem Workshop gibt es keine Hierarchien. „Es entstehen diese Zwischenräume, in denen es keine Fehler gibt“, sagt Mona. Sie schreibt nicht vor, wie die Instrumente zu klingen haben. Sie nimmt an, was ihr gereicht wird.
Aman und Darius spielen weiter im „Fluss“, so wie es ihnen in den Sinn kommt – und doch im Dialog miteinander. Mona legt ihre Klarinette wieder weg und beginnt die Zeilen des Gedichts zur Improvisation der Instrumente zu lesen. „Herz, Herz, Herz“, flüstert Mona in pulsierendem Rhythmus zur Musik, „Die Landkarte des Kriegs ist auch die meines Herzens“.
Nach dem Workshop in Gruppen findet am Nachmittag eine zweite Tutti-Probe statt. Die Musikerinnen und Musiker laufen mit ihren Koffern durch Braga. Die 200.000-Einwohner-Stadt trennen einige Hügel vom Meer. Hier ist die Luft trocken, auf eine Brise wartet man vergebens. Die großen Instrumente ins Auditorium ein paar Straßen weiter zutragen, ist mühsam.
Was sich am Morgen noch atonal angehört hat, wird immer harmonischer. Dabei haben die Musikerinnen und Musiker noch immer keine Noten vor sich, keine präzisen Anweisungen. Sie haben sich nur über den Tag kennengelernt. Der erste gemeinsame Akkord nach dem Frühstück war noch unsicher. Flatterhaft schwirrten die Töne durchs Auditorium. Sie passten nicht zueinander.
Jetzt bewegt die Dirigentin nur die Finger ihrer rechten Hand, kitzelt noch mehr aus den Musikerinnen und Musikern heraus. Sie werden lauter. Samawatie grinst, „ihr hättet auch höher werden können“, auch sie weiß noch nicht, wie ihre Zeichen interpretiert werden. Wie sie die Orchester zusammenführt, ist ein spannendes Experiment.
„Das Spielen ist genauso wichtig, wie das Zuhören“, sagt sie und signalisiert Elham, dass sie ein Solo spielen soll. Die Iranerin und Studentin der Barenboim-Said-Akademie wird lauter auf ihrer Kamantsche, eine Stachelgeige mit rundem Resonanzkörper, vier Saiten und Bogen. Die anderen achten jetzt auf sie, passen ihr Spiel der Kamantsche an.
„Am Anfang war es nicht einfach, musikalisch zu kommunizieren“, sagt Hamedi am Abend, „aber wir haben ein gemeinsames Vokabular gefunden“. Zwar basiert die afghanische und iranische Musik auf Improvisation, aber mit anderer Philosophie.
Elham setzt zu einem letzten gemeinsamen Akkord mit Aman und Darius und dem verschmolzenen Orchester an. Diesmal schwingt Selbstbewusstsein mit. „Man muss einander zuhören“, sagt Elham. „Dieses Miteinander ist neu für mich, wie wir alle gleichzeitig improvisieren, um miteinander verbunden zu sein, um eins zu sein.“
Das Campus-Konzert findet am Donnerstag, 14. September, um 19.30 in der Aula der Universität Bonn statt. Es ist Teil des Beethovenfests, das vom 31. August bis 24. September in diversen Spielstätten in Bonn stattfindet.