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Dirigent Daniel Barenboim„Sonst kommt man wieder in den Modus der Nazizeit”

Lesezeit 7 Minuten
Barenboim

Der Dirigent Daniel Barenboim probt mit dem West-Eastern Divan Orchestra

Herr Barenboim, ich erreiche Sie telefonisch – wo bitte?

Daniel Barenboim: In Südspanien – und nicht bei Orchesterproben, sondern im Urlaub.

Und wie geht es Ihnen? Sie hatten im Frühjahr ja gesundheitliche Probleme – man hörte von einer entzündlichen Gefäßerkrankung.

Ja, aber das ist absolut vorbei. Nein, ich bin sehr zufrieden – ich ruhe mich jetzt lange aus und komme dann zu den Proben nach Köln.

Sie werden im November 80. Wie erleben Sie das?

Weiß ich nicht, ich war noch nie 80.

Sie sind also Ende Juli/Anfang August mit Ihrem West Eastern Divan Orchestra zu einer Probensession in der Philharmonie, wo Sie auch zwei Konzerte geben. Das geschieht zum wiederholten Male. Wie kommt’s?

Wir spielen seit vielen Jahren immer sehr gerne in der Kölner Philharmonie. Der Saal hat eine ausgezeichnete Probenakustik. Die freundliche Einladung von Intendant Langevoort, auch in diesem Jahr für unsere Sommertournee dort zu proben, haben wir dankend angenommen.

Apropos Akustik: Sie haben ja auch schon in der Elbphilharmonie in Hamburg gespielt und dirigiert. Da hört man ja sehr Unterschiedliches. Ihr Eindruck?

Das ist schon ein sehr guter Saal – aber man muss sich, das stimmt schon, erst mal darauf einstellen.

In Köln werden ja leider – das wissen Sie aus eigener Erfahrung – die Hustengeräusche besonders gut übertragen...

Das ist aber kein Alleinstellungsmerkmal, das erlebe ich anderswo auch.

Wir haben es derzeit mit drei einander überlappenden Krisen zu tun: Corona, Ukraine-Krieg und Klimakrise. Was macht diese Erfahrung mit Ihnen als Mensch und Musiker?

Gegen Covid kann man nicht viel tun – man bekommt es, oder man bekommt es nicht. Aber gerade für Orchestermusiker war das eine harte Zeit: Wenn hundert Personen zusammenkommen, ist das Infektionsrisiko naturgemäß hoch – und dann muss müssen Konzerte ausfallen. Diese Krise ist auch für Musiker nicht vorbei.

Wie verhalten Sie sich zum Ukraine-Krieg – Ihre Vorfahren kommen schließlich aus Russland?

Mein Großvater väterlicherseits kam aus der Ukraine, und meine Großeltern mütterlicherseits kamen aus Belarus. Aber ich habe keine Verwandten mehr dort, von denen ich wüsste. Auf jeden Fall ist der Krieg eine schreckliche Sache – zumal man keinen Grund für ihn sehen kann.

Zur Person

Daniel Barenboim, 1942 als Sohn osteuropäisch-jüdischer Einwanderer im argentinischen Buenos Aires geboren, gehört als Pianist und Dirigent zu den herausragenden Musikerpersönlichkeiten unserer Zeit. Mit seiner Familie wohnhaft in Berlin, amtiert er dort seit 1992 als Kapellmeister der Staatskapelle und Generalmusikdirektor der Staatsoper Unter den Linden.

1999 gründete er zusammen mit dem palästinensischen Intellektuellen Edward Said das West-Eastern Divan Orchestra, das zu gleichen Teilen aus israelischen und arabischen Musikern besteht und sich für friedliche Lösungen im Nahostkonflikt einsetzt.

Mit diesem Orchester gibt Barenboim jetzt zwei Konzerte in der Kölner Philharmonie. Am Montag, 1. August, 20 Uhr, steht Smetanas Zyklus „Má Vlast“ auf der Agenda, und am Freitag, 5. August, ebenfalls 20 Uhr, ein spanisch-französisches Programm mit Werken von Ravel, de Falla und Debussy. Solist ist der Starpianist Lang Lang. (MaS)

Hat er Ihr Verhältnis zur russischen Kultur und zu russischen Künstlern verändert?

Der Krieg ist das eine, Russen und russische Kultur sind das andere, das muss man trennen. Sonst kommt man wieder in den Modus der Nazizeit mit ihrer Ablehnung von allem, was nicht zur deutschen Kultur gehört. Tatsächlich höre ich jetzt von Orchestern, die russische Künstler nicht engagieren wollen. Ein solches Verhalten lehne ich ab. Aber das Gegenteil – unter keinen Umständen etwas zu sagen – ist auch nicht richtig.

Der Nahost-Konflikt, dem ja das West Eastern Divan Orchestra seine Existenz verdankt, ist angesichts der aktuellen Katastrophen stark in den Hintergrund des öffentlichen Interesses getreten. Das tut ihm ja wohl nicht gut...

Nein, ganz und gar nicht. Das dauert nun schon sehr lange, und ein Ende ist nicht abzusehen. Das Problem: Es kann da keine Gewinner und Verlierer geben. Nur wollen das die Konfliktparteien nicht einsehen. Beide nicht. Jeder denkt, das Land gehöre ausschließlich ihm. Die Möglichkeit einer Zwei-Staaten-Lösung sehe ich aktuell jedenfalls nicht. Und wenn Sie mich fragen, ob ich darüber nicht manchmal verzweifle, kann ich nur antworten: ja.

Hat die Friedensbotschaft dieser Orchestergründung vor nunmehr 23 Jahren gar keine Wirkung gehabt?

Es ging damals nicht um Frieden, sondern darum, ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, was uns, als Musikern unterschiedlicher Herkunft, zutiefst gemeinsam ist. Das Orchester probt und spielt allerdings nicht in der Konfliktregion, sondern „außerhalb“. Wenn es in Tel Aviv oder Kairo möglich wäre, würde ich es machen. Ist es aber nicht.

Hat sich das Orchester verändert?

Es ist, denke ich, besser geworden (Lacht). Es war ja ein sehr jugendliches Orchester, jetzt ist es erwachsen geworden und hat sich zu einem international renommierten Spitzenorchester entwickelt. Es gibt etliche Musikerinnen und Musiker, die von Anfang an dabei waren. Und die sehen, dass man zusammen denken muss – und dass Musik die Möglichkeit dazu gibt. Noch einmal: Darum geht es uns, wir sind keine politische, sondern eine „menschliche“ Institution.

Gibt es denn im Orchester zwischen den Mitgliedern der unterschiedlichen Volksgruppen offenen Streit?

Es gibt natürlich auch mal Diskussionen. Aber nicht in der Weise, dass das ganze Projekt infrage gestellt worden wäre.

Wie reagieren Sie auf Anfeindungen – von der einen wie von der anderen Seite?

Sie machen mich traurig, aber sie ändern und stoppen nichts.

Sie spielen mit West Eastern Divan in Köln zwei Konzerte – eines mit Smetanas Zyklus „Mein Vaterland“ und ein französisch-spanisches Programm mit de Falla, Debussy und Ravel. Was hat zu dieser Auswahl geführt?

„Ma Vlast“ wollte ich schon lange mit dem Orchester machen – auch ein bisschen wegen der politischen Aussage – die Frage, woher man kommt, ist dort ja ein wichtiges Thema. An sie knüpft sich eine wichtige und positive Aussage. Im übrigen ist es eines der schönsten Orchesterwerke, die je geschrieben wurden. Aber man kann es nicht gut spielen, ohne sich mit dem ideellen Hintergrund – dem tschechischen Patriotismus des 19. Jahrhunderts – beschäftigt zu haben. Ich habe ja oft Rafael Kubelik mit diesem Werk erlebt, und da habe ich gemerkt, was diese geistige Verbundenheit auch musikalisch bewirken kann. Er hat das Stück ganz natürlich „besessen“.

Auch im zweiten Programm geht es um musikalisch ausgedrückte nationale Identität: Französische Komponisten schreiben „a l“espagnole“ - auf spanische Art...

Ja, das ist sehr wichtig für die Stücke des Abends – Debussys „Ibéria“, Ravels „Rapsodie espagnole“ und „Boléro“. Franzosen, die spanische Musik geschrieben haben – ein kulturgeschichtlich hochinteressantes Phänomen. Bei Ravel, der ja durch seine Mutter, eine Baskin, von Haus aus halber Spanier war, spielte es natürlich eine ungleich größere Rolle als bei Debussy. Bei Debussy geht es philosophischer zu, bei Ravel farbiger.

Lang Lang Köln

Der Starpianist Lang Lang in der Kölner Philharmonie.

Sie musizieren wieder einmal – im Fall von de Fallas „Nächte in spanischen Gärten“ – mit Lang Lang zusammen. Was macht diese Zusammenarbeit für Sie so fruchtbar und erfreulich?

Ich erinnere mich, dass ich mit Lang Lang mal französische Werke arbeitete, als er noch sehr jung war. Schon damals fand ich seinen natürlichen und farbenreichen Zugang zu dieser Musik wunderbar. Deshalb schlug ich ihm die „Nächte in spanischen Gärten“ vor. Er hat dieses Werk noch nie aufgeführt, stimmte aber sofort zu. Schön, dass es nun endlich auch zu der lange erhofften Zusammenarbeit zwischen ihm und dem Divan kommt. Darauf freuen wir uns alle.

Was würden Sie unbedingt musikalisch noch machen wollen? Gibt es da unerledigte Herzenswünsche?

Ich glaube, der Musiker, der mit allem zufrieden ist, was er gemacht hat, ist arrogant, und ich möchte es nicht werden.

Womit zum Beispiel sind Sie nicht zufrieden?

Sind Sie etwa ein Psychoanalytiker? (Lacht)