Die hierarchischen Strukturen im Kulturbetrieb und ein falsches Verständnis von Kreativität öffnen Machtmissbrauch und Übergriffen Tür und Tor.
Belästigungsvorwürfe gegen RothDer Kulturbetrieb hat ein großes Problem
Die Vorwürfe gegen François-Xavier Roth wiegen schwer. Und es ist nun an der Leitung des Orchesters und der Stadt, sie schnell und umfassend aufzuklären. Roths Stellungnahme gegenüber den Musikerinnen und Musikern des Gürzenich-Orchesters und auch gegenüber der französischen Zeitschrift, die als erste über die mutmaßlichen Übergriffe berichtete, und die darin enthaltenen Bitten um Entschuldigung mag jeder selbst bewerten.
Und wie so oft in solchen Fällen wird nun bekannt, dass Gerüchte möglicherweise übergriffigen Verhaltens schon sehr lange die Runde gemacht haben sollen. Demnach wäre es so etwas wie ein offenes Geheimnis gewesen, dass Roth gewisse Grenzen überschreitet. Nur: Sollte dem so gewesen sein - warum haben sich möglicherweise Betroffene dann nicht schon viel früher zu Wort gemeldet? Das ist die Frage, die sich in einer solchen Konstellation jeder stellt.
Betroffene haben Angst, Vorwürfe zu äußern
Und die Antwort ist so naheliegend wie schmerzhaft: Weil sie Angst hatten. Angst davor, dass ihnen nicht geglaubt wird. Angst davor, den Job und die eigene Karriere zu gefährden. Die MeToo-Bewegung hat es Betroffenen leichter gemacht, sich zu äußern. Aber die Gefahr, in der Öffentlichkeit als Lügnerin dargestellt zu werden, die ja nur nach Aufmerksamkeit heische, ist immer noch groß. Um das zu bestätigen, muss man nur einmal schauen, was Frauen blüht, wenn sie mit Vorwürfen an die Öffentlichkeit gehen. In unserer Gesellschaft wird mutmaßlichen Tätern immer noch häufiger geglaubt und im Zweifel sogar verziehen, als man es für möglich hält. Besonders dann, wenn es sich um Prominente mit großer Fangemeinde - und versierten Anwälten - handelt.
Vor allem aber zeigt sich einmal mehr, dass der Kulturbetrieb ein großes Problem hat. Der Fehler liegt im System. Die immer noch sehr hierarchisch geprägten Strukturen in vielen Theatern, Opernhäusern oder eben auch in Orchestern öffnen Machtmissbrauch und Übergriffen Tür und Tor. Gerade Künstlerinnen und Künstler arbeiten oft unter prekären Bedingungen, eine Festanstellung ist da schon fast ein Sechser im Lotto, den man nicht gefährden will. Ein so erfolgreicher und zweifellos hochbegabter Orchesterchef wie Roth hat die Macht, eine Karriere entscheidend zu fördern - oder sie zerstören. Dieses Gefälle birgt ein erhebliches Gefahrenpotenzial.
Hinzu kommt, dass die Gesellschaft ein seltsam verzerrtes Bild von Kreativität hat. Künstlern lassen wir allzu oft viel zu viel durchgehen, viel mehr als beispielsweise einem Politiker oder einem Wirtschaftsboss. Wenn Künstler narzisstisch und rücksichtslos agieren, wird das gern damit entschuldigt, sie seien so von ihrer Schaffenskraft getrieben, dass ein solches Verhalten gewissermaßen eine negative Begleiterscheinung sei, die man hinnehmen müsse.
Das Gegenteil ist der Fall. Die Verantwortlichen in den Häusern dürfen nicht wegschauen, sondern müssen umso wachsamer sein. Echte Kreativität kann sich nur entfalten, wenn sich Kreative sicher fühlen.