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Vorwürfe gegen Francois-Xavier Roth„Er ist nicht mehr tragbar“

Lesezeit 8 Minuten
Francois-Xavier Roth, Generalmusikdirektor der Stadt Köln, steht vor dem Staatenhaus. Er trägt eine dunkle Jacke und einen gemusterten Schal.

Francois-Xavier Roth wird seine Tätigkeit als Generalmusikdirektor der Stadt vorerst ruhen lassen.

Was Musiker und Musikerinnen des Gürzenich-Orchesters über die Vorwürfe gegen den Generalmusikdirektor sagen und wie die Politiker reagieren. Ein Hintergrund.

François-Xavier Roth, Kölner Generalmusikdirektor und Gürzenich-Kapellmeister, lässt seine Arbeit mit dem Gürzenich-Orchester bis auf weiteres ruhen. Hintergrund sind die Vorwürfe sexueller Belästigung von weiblichen und männlichen Orchestermitgliedern, die die Pariser Zeitschrift „Le canard enchainé“ am Mittwoch öffentlich gemacht hatte (wir berichteten in unserer Donnerstag-Ausgabe). Der Zeitschrift zufolge wurden und werden diese Vorwürfe nicht nur aus von Roth dirigierten französischen Orchestern, sondern eben auch dem Gürzenich-Orchester heraus erhoben.

Vorwürfe sexueller Belästigung: Gürzenich-Kapellmeister Francois-Xavier Roth lässt Arbeit ruhen

Laut den in der französischen Zeitschrift geäußerten Anschuldigungen ging Roth stets ähnlich vor. Es habe mit spätabendlichen, schmeichelhaften SMS begonnen. Habe er darauf eine Reaktion erhalten, seien weitere Nachrichten gefolgt, auch mit Kuss- und Herz-Emojis. Manchmal habe er auch so genannte Dickpics, also Fotos seines Genitals, verschickt. Für eine Stellungnahme gegenüber dieser Zeitung fand sich der Chefdirigent auf Anfrage nicht bereit.

Orchesterdirektor Stefan Englert verlas zu Beginn der Donnerstag-Probe des Orchesters ein entsprechendes Roth-Statement, das dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ vorliegt und folgenden Wortlaut hat: „Aufgrund der Veröffentlichung eines Presse-Artikels, der aufdeckt, dass ich in der Vergangenheit unangemessene Textnachrichten an Musiker*innen gesendet habe, werden die Orchester, die ich leite, die beschriebenen Verhaltensweisen umfassend untersuchen und Informationen zu den Vorwürfen sammeln. Deshalb habe ich mich dazu entschlossen, das Gürzenich-Orchester vorerst nicht zu dirigieren, um in aller Ruhe die Durchführung der Untersuchungen zu ermöglichen. Ich entschuldige mich bei allen, die ich verletzt haben könnte.“

Habe ich mich dazu entschlossen, das Gürzenich-Orchester vorerst nicht zu dirigieren. [...] Ich entschuldige mich bei allen, die ich verletzt haben könnte
Francois-Xavier Roth

In seinem rahmenden Kommentar zu Roths Stellungnahme, der ebenfalls schriftlich vorliegt, führt Englert aus: „Die Stadt Köln und die Betriebsleitung des Gürzenich-Orchesters nehmen die erhobenen Vorwürfe ernst. Sie wird diese Zeit nutzen, diese sensibel, detailliert und offen intern aufzuarbeiten.“ Für die kommenden Projekte plane man ohne François-Xavier Roth. So werde im Fall der zur Uraufführung anstehenden Oper „Ines“ im Staatenhaus der Komponist Ondrej Adamek selbst die musikalische Leitung übernehmen. Englert weiter an die Orchestermitglieder: „In diesem Zusammenhang weise ich Sie auch noch einmal auf Anlaufstellen beim Gürzenich-Orchester und der Stadt Köln hin, die Sie für Beratung und Meldungen im Zusammenhang mit sexuellen Belästigungen kontaktieren können.“

Vorwürfe gegen Francois-Xavier Roth: Viele Musikerinnen hatten offenbar Angst, etwas zu sagen

Mitteilungen von und Recherchen bei Gürzenich-Musikerinnen und -Musikern, von denen einige ihre Namen nicht in der Zeitung lesen, andere unter Hinweis auf Vertraulichkeit gar nichts sagen wollen zur Frage sexueller Belästigungen ergaben ein uneinheitliches Bild. Von „permanenten Beschwerden seit Beginn der Amtszeit von Roth, von der Orchesterspitze bis hinunter zu Akademistinnen, aber auch aus dem Sängerensemble der Kölner Oper“ sagt ein Mitglied der Holzbläser-Gruppe.

Die Frage liegt nahe, warum das Thema nicht schon früher hochgekocht ist. Viele Musikerinnen hätten sich, so ist zu hören, nicht „aus der Deckung getraut“ aus Angst vor beruflicher Benachteiligung: „Wenn er will, kann der Dirigent einem Orchestermitglied auch trotz Festanstellung das Leben zur Hölle machen.“ Zudem seien viele der vermeintlichen Vorgänge nicht so eindeutig gewesen, dass sie sich zu einem juristisch wasserdichten Fall formiert hätten.

Manches habe sich als ein Angebot dargestellt, das abgelehnt wurde – woraus man niemandem einen Strick drehen könne. „Man sah“, so der Informant, „die Gefahr, dass einen die Gegenseite bei Publikwerden der Vorwürfe mit Gegenklagen wegen übler Nachrede und Verleumdung überschütten würde.“ Außerdem habe man angesichts des unbestreitbaren und auch überregionalen künstlerischen Renommees und Erfolgs dank Roth nicht als Spielverderber und „Petzer“ dastehen wollen.

Vorwürfe auch gegen Stefan Englert – der weist Kritik zurück

Vorwürfe werden in diesem Zusammenhang auch gegen Stefan Englert erhoben, der „nichts gemacht“ habe, obwohl ihm die Dinge nicht zuletzt durch ihre Thematisierung im Orchestervorstand bekannt gewesen seien. Englert weist diese Kritik im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ strikt zurück: „An mich wurden 2020, während der Pandemie-Zeit, ganz allgemeine Gerüchte herangetragen – und dazu wiederum widersprüchliche Aussagen –, zu denen auch vertrauliche Gespräche geführt wurden. Ich habe damals gesagt: Wenn da was ist und belegbar ist, werden wir dem auch arbeitsrechtlich nachgehen. Ich bin als leitender Angestellter der Stadt Köln verpflichtet, für ein sicheres Arbeitsumfeld zu sorgen. Aber es gab keine AGG-Beschwerde (Allgemeines Gleichbehandlungs-Gesetz, die Red.) und auch keine juristisch verwertbaren Aussagen“, so Englert.

„Wir haben im Haus eine interne Anlaufstelle mit zwei Vertrauenspersonen, an die sich Betroffene wenden können. Zudem arbeiten wir seit einem halben Jahr mit Themis, einer Vertrauensstelle gegen sexuelle Belästigung und Gewalt, zusammen. Unsere Führungskräfte werden fortlaufend zu diesen Themen geschult“, teilte die Pressesprecherin des Orchesters mit.

Gürzenich-Orchester „unter Schock“

Englerts Position wird zumindest von Teilen der Formation gestützt. „Das Orchester steht“, so eine Musikerin des Orchesters im Gespräch mit dieser Zeitung, „unter Schock – das haben wir so nicht erwartet. Wie soll es jetzt weitergehen, wenn er nicht zurückkommt?“ Sie bekundet, von den Vorwürfen „nichts mitbekommen“ zu haben, sei auch „persönlich nicht betroffen“. Da sei allenfalls „mal was aus der Gerüchteküche geschwappt“. Sie bestätigt, von Roth eine Mail erhalten zu haben: „Aber das war nicht übergriffig. Ja, es war etwas ungewöhnlich, aber ich habe darauf nicht reagiert.“

Roth hat das Orchester gespalten. Er hatte seine Vorlieben und Abneigungen, und das Orchester hatte teilweise auch Angst vor ihm
Eine Musikerin des Gürzenich-Orchesters

Schwierig findet die Musikerin vielmehr etwas anderes: „Roth hat das Orchester gespalten. Er hatte seine Vorlieben und Abneigungen, und das Orchester hatte teilweise auch Angst vor ihm. Wenn er jemanden nicht wollte, dann ging das schon ans Eingemachte.“ Ein Teil des Orchesters habe ihm zu Füßen gelegen, während andere ihn überhaupt nicht gemocht hätten. Sie will zumindest nicht ausschließen, dass einige die aktuelle Diskussion dazu benutzen, mit dem Kapellmeister alte Rechnungen zu begleichen.

SWR äußert sich nach Vorwürfen gegen Gürzenich-Kapellmeister Francois-Xavier Roth

Bemerkenswerterweise spricht sie von Roth, den sie künstlerisch nach eigenem Bekunden sehr schätzt, bereits in der Vergangenheitsform. Das scheint indes verfrüht. Kenner der Materie lassen freilich keinen Zweifel daran, dass Roth in Köln nicht zu halten sei, wenn sich die Vorwürfe bestätigen sollten. Die Vertragszeit des GMD läuft im kommenden Sommer aus; falls sich die Causa zu einem handfesten MeToo-Skandal auswächst, wird er noch vor diesem Zeitpunkt gehen müssen.

Im Sommer 2025 soll Roth die künstlerische Leitung des SWR Symphonieorchesters als Nachfolger von Theodor Currentzis übernehmen. Der SWR erklärte auf Anfrage dieser Zeitung, die Vorwürfe gegen Roth seien ihm erst seit wenigen Tagen bekannt. Man sei mit Roth im Gespräch. „Der SWR prüft diese Hinweise und nimmt sie sehr ernst“, teilte eine Sprecherin mit. „Bislang lagen und liegen dem SWR keine ähnlich gelagerten Vorwürfe aus dem SWR Symphonieorchester vor. Im SWR gibt es für solche Vorwürfe eine AGG Beschwerdestelle, die entsprechenden Hinweisen Betroffener nachgehen kann.“ Ob der Sender an dem Vertrag mit Roth festhalten wird, könne er erst nach Abschluss der internen Prüfung sagen.

Oberbürgermeisterin Reker kündigt umgehende Aufklärung an

Oberbürgermeisterin Henriette Reker ließ am Donnerstag mitteilen, dass sie die Vorwürfe „sehr ernst“ nehme. Sie habe bereits veranlasst, dass der Sachverhalt aufgeklärt wird. Wie zu erfahren war, hat die Stadt eine externe Anwaltskanzlei damit beauftragt, die auch eine möglicherweise notwendige rechtliche Prüfung übernehmen soll. Roth ist als Generalmusikdirektor und Gürzenich-Kapellmeister Angestellter beim Gürzenich-Orchester, das eine eigenbetriebsähnliche Einrichtung der Stadt Köln ist. Sein aktueller Vertrag läuft noch bis zum 31. August 2025. Die Stadt Köln habe von den konkreten Vorwürfen gegen Roth erst durch den Artikel von „Le Canard enchaîné“ erfahren, teilte die Stadt auf Anfrage mit. Es habe vorab keine Anfrage der Redaktion gegeben.

Die Politiker im Stadtrat haben am Donnerstag mit Bestürzung auf die Ereignisse reagiert und teilweise Roths Rücktritt gefordert. „Wir sind schockiert und nehmen die Vorwürfe sehr ernst“, sagte Bürgermeisterin Brigitta von Bülow, kulturpolitische Sprecherin der Grünen. Was genau vorgefallen ist, müsse nun im Detail aufgeklärt werden. Die entsprechenden Beschwerdestellen seien bereits eingeschaltet und machten ihre Arbeit. „Wenn die Ergebnisse dieser Arbeit vorliegen, werden wir sehen, welche Konsequenzen folgen müssen“, sagte von Bülow.

François-Xavier Roth ist nicht mehr tragbar und muss sofort seinen Hut nehmen
Maria Helmis-Arend (SPD)

„Ich kann nicht beurteilen, was tatsächlich an diesen Vorwürfen dran ist“, sagte Ralph Elster (CDU). Sollte sich diese bestätigen, müsse man Konsequenzen ziehen. Dass Roth jetzt zunächst als Dirigent pausiere, sei erstmal der richtige Weg.

„François-Xavier Roth ist nicht mehr tragbar und muss sofort seinen Hut nehmen“, sagte Maria Helmis-Arend (SPD): Falls er das nicht einsehe, müsse die Stadt Köln handeln und ihn unverzüglich vor die Tür setzen. „Der Fall Roth muss jetzt Anlass sein, eine längst überfällige Debatte über sexualisierte Gewalt und Machtmissbrauch im Kölner Kulturbetrieb zu führen“, so Helmis-Arend. In solchen Machtpositionen sollte konsequent Abstand von intimen Beziehungen genommen werden, ergänzte die SPD-Politikerin. „Für die Zukunft braucht es verbindliche Strukturen, um in solchen Fällen Betroffene zu schützen und Täterinnen und Täter konsequent in die Schranken zu weisen.“

Ratspolitiker sehen keinen Spielraum für eine Rückkehr

„Ich sehe keinen Spielraum für eine Rückkehr von François-Xavier Roth an das Pult der Philharmonie. Das wäre ein inakzeptables Signal an die betroffenen Personen und für das Publikum nicht nachvollziehbar“, sagte Lorenz Deutsch (FDP). Die Vorwürfe würden schwer wiegen. Kein künstlerischer Verdienst könne sexuell übergriffiges Verhalten rechtfertigen, so Deutsch. Es sei erschütternd, dass Jahre nach der MeToo-Debatte Männer in Machtpositionen des Kunstbetriebes ihre Position immer noch missbrauchen.

„Herr Roth hat gegenüber der Presse übergriffiges Verhalten zugegeben. Jetzt muss lückenlos aufgeklärt werden, ob es solche Vorfälle auch in Köln gegeben hat und Konsequenzen gezogen werden“, sagte Sarah Niknamtavin (Die Linke). Auch wenn Roth Köln 2025 verlassen werde, müsse die Stadt nun zügig wirkungsvolle und transparente Strukturen prüfen, die Machtmissbrauch und Belästigung entgegenwirken.

Nun ist es an der Stadt, die Vorwürfe schnell und umfassend aufzuklären. Bis dahin gilt für François-Xavier Roth die Unschuldsvermutung.