François-Xavier Roth über seine Liebe zu Anton Bruckner, seine letzte Saison mit dem Gürzenich-Orchester und die Wiedereröffnung der Kölner Oper.
François-Xavier Roth im Interview„Bruckners Musik hat nach wie vor viele Rätsel“
Herr Roth, 2024 ist Bruckner-Jahr – 200. Geburtstag. Sie und das Gürzenich-Orchester feiern das Jubiläum mit einer Gesamteinspielung der Sinfonien. Die in diesem Jahr auf die Zielgerade geht.
François-Xavier Roth: Ja, jetzt im März kommt die Neunte raus.
Im Konzert haben sie alle Neune bereits gespielt – den Anfang setzte die Vierte gleich nach Ihrem Amtsantritt in Köln. War dieser Bruckner-Zyklus – mit Zielpunkt 2024 – von langer Hand, also noch vor Ihrem Amtsantritt, geplant?
Nein, das war kein Plan, es hat sich ergeben. Ich habe sehr früh gemerkt, dass das Orchester diese starke Bruckner-Tradition hat. Da wurde mir klar, dass eine Bruckner-Totale ein gutes Projekt für uns beide sein könnte. Außerdem stand und steht mit Myrios und seinem Leiter Stephan Cahen ein Kölner Label bereit, mit dem ich – das war auch bei der Gesamtaufnahme der Schumann-Sinfonien schon so – ausgezeichnet zusammenarbeite.
Wie kamen Sie persönlich eigentlich auf Bruckner?
Ich bin tatsächlich sehr spät zu ihm gekommen. Großen Einfluss hatte mein Freund Daniel Barenboim, der in Paris schon damals in den 1980ern viel Bruckner dirigierte. Ein anderer Inspirator war Pierre Boulez, mit dem ich viel über Bruckner gesprochen habe.
In Frankreich gab es ja vor Ihnen eigentlich keine Tradition der Bruckner-Interpretation. Warum eigentlich nicht – Bruckners Katholizismus zum Beispiel, aber auch seine Nähe zur gerade im Frankreich des 19. Jahrhunderts so beliebten Orgel hätte doch ein starkes Bindeglied sein können?
Ja, aber in der französischen Szene war er tatsächlich ein Nobody. Die Franzosen konnten mit den Riesenlängen seiner Sinfonien nichts anfangen. Ich weiß von einem französischen Solohornisten, der sich darüber beschwerte, dass er bei Bruckner dasselbe immer noch mal und nochmal spielen muss. Im Übrigen stand die Gattung Sinfonie seinerzeit in Frankreich definitiv am Rand. Die französische Musik am Ende des 19. Jahrhunderts ging ganz andere Wege. Als Bruckner seine Neunte komponierte, schrieb Debussy „Prélude à l'après-midi d'un faune”.
Auf der anderen Seite war Bruckner stark von Wagner beeinflusst. Und eine starke Tradition des Wagnerisme hat Frankreich ja durchaus.
Ja, aber das hatte ja immer mit Oper und Theater zu tun, das war etwas anderes. Absolute sinfonische Musik – damit hatten die Franzosen ihre Probleme.
Würden Sie mit Ihrem Pariser Originalklang-Orchester Les Siècles Bruckner machen?
Ja, wir machen ihn. Im Oktober spielen wir in Linz die Neunte.
Aber die brauchen doch tatsächlich einen ganz anderen Grundklang, wenn die Bruckner adäquat spielen wollen – ohne diese starke Auffächerung der Klangregister.
Ja, diese unterschiedlichen Klangkulturen gibt es. Aber ich stehe da sozusagen in der Mitte und profitiere von beiden. Wir sind jetzt, bei Les Siècles, dabei, uns mit dem originalen Bruckner-Instrumentarium auseinanderzusetzen, mit der Spezifik der Holzbläser, mit den Darmsaiten bei den Streichern.
Haben Sie einen „Bruckner à la francaise” im Kopf?
Nein, nein, wir werden schon versuchen, uns seinen authentischen, in der österreichischen Tradition wurzelnden Klang zuzueignen. Aber es wird wohl trotzdem anders klingen, als man es vielleicht gewohnt ist und erwartet.
Noch einmal der Punkt Orgel. Sie sind der Sohn eines Organisten. Hat Sie das beeinflusst – Bruckner übertrug ja bekanntlich den Klangcharakter der Orgel auf das große Orchester?
Meine Frau hat mir letzte Woche gesagt, dass sie jetzt meine Liebe zu Bruckner versteht – weil mein Vater eben Daniel Roth sei. Das klingt zunächst nach billiger Psychologie, aber da mag etwas dran sein. Ich habe als Kind meinen Vater immer begleitet und angehört. Und Orgelmäßiges kommt bei Bruckner ja wirklich vor: dieser große Kontrast zwischen den Registern oder auch diese Monumentalität. Aber mich fasziniert noch viel mehr: Bruckner klingt ja schon nach Spektralmusik, und er arbeitet so intensiv mit den Harmonien. Vor allem aber ist es diese besondere Zeitvorstellung, die sich mir als Hörer immer wieder mitgeteilt hat: Wann hat es eigentlich begonnen, und wo stehe ich gerade? Das hat etwas Hypnotisches, und es ist natürlich sehr modern und sehr neu.
Welche besonderen Anforderungen bringt Bruckner für den Dirigenten, also etwa in Sachen Hochhaltung der Spannung?
Ja, diese Rolle ist eine sehr besondere. Es bedarf eines besonderen Energie-Inputs, einer großen Kraft. Für mich hat diese Musik übrigens nach wie vor viele Rätsel, etwa beim Tempo und bei Tempowechseln. Sehr kompliziert, da muss man viele Entscheidungen treffen. Zugleich ist das ein großer Reiz: Wir können diese Musik neu hören und spielen.
Sie sehen Bruckner als Modernen. Das widerspricht ja einer bestimmten Lesart der Musikgeschichte. Für den Bruckner-Verächter Schönberg war Brahms „der Fortschrittliche“.
Auf der Suche nach Neuem waren die Komponisten dieser Zeit allesamt – Bruckner, Brahms, Mahler und natürlich Wagner. Jeder machte da andere „Vorschläge“. Für mich steht außer Frage, dass Bruckner auch Schönberg und Berg „annonciert“. Der harmonische Verlauf, auch das Zerbrechen der Form – das hat etwas Exotisches, da kündigt sich in der Tat mit Macht die Moderne an.
Sie haben konsequent die Urfassungen dirigiert. Sind die „besser“ als die späteren Fassungen?
Es geht hier nicht um „besser“ oder „schlechter“. Das Orchester hatte die Urfassungen noch nie gespielt, da gab es für uns viel zu entdecken. Es gibt in den ersten Versionen manchmal mehr Erfindung, mehr Utopie. Manchmal klingt es auch nicht so ideal. Aber das alles ist für mich sehr interessant, es zeigt auch die spezifischen Probleme, die Bruckner überhaupt mit Orchestern und dem Orchesterklang hatte. Kurzum: Die Urfassungen können auch beim Publikum eine andere Perspektive auf Bruckner befördern.
Sie gehen im Sommer in Ihre letzte Kölner Saison. Was haben Sie noch auf der Pfanne?
Die nächste Saison wird für uns sehr intensiv, mit vielen fantastischen Projekten und neuen Komponisten, Schönberg zum Beispiel. Und wir gehen mit der Oper zurück an den Offenbachplatz.
Sicher?
Ich bin sehr optimistisch. Und ich freue mich auf die Projekte mit dem Gürzenich-Orchester nach meiner GMD-Zeit. Wir werden – auch das Orchester will das so – zusammenbleiben, haben interessante Projekte in der Pipeline.
Sie gehen ja dann als Chefdirigent zum SWR Sinfonieorchester in Stuttgart. Sie waren ja vor der Fusion, die sie bekämpft haben, beim Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg. Es ist also für Sie in gewissem Sinn eine Repeat-Performance. Aber Sie müssen halt mit dieser Fusion zweier völlig unterschiedlicher Klangkörper klarkommen.
Ja, aber ich muss sagen, dass mein Vorgänger Theodor Currentzis gerade diesbezüglich eine hervorragende Arbeit geleistet hat. Es ist nicht nur ein hervorragendes Orchester, sondern auch eine Einheit. Klar, ich werde da keine Oper mehr machen können, die aber als Gast in Berlin und München. Und mit Les Siècles und London geht es natürlich auch weiter.