Am Donnerstag beginnt die Berlinale. Deren neue Intendantin Tricia Tuttle muss zum Auftakt die Antisemitismus-Debatte moderieren.
Berlinale 2025Laufen in diesem „Brave Space“ eigentlich auch Filme?

Fassadenkletterer montieren einen der Berlinale-Bären an der Fassade des Kinos Zoo-Palast. Die 75. Internationalen Filmfestspiele Berlin finden vom 13. bis 23. Februar 2025 statt.
Copyright: Elisa Schu/dpa
Soll es man es die Re-Politisierung der Berlinale nennen, dass Tricia Tuttle, neue Leiterin des wichtigsten deutschen Filmfestivals, derzeit vor allem über Meinungsfreiheit und Antisemitismus spricht? In ihrer Eröffnungs-Note betont sie gleich im ersten Satz das scheinbar Selbstverständliche („Wir sind ein Filmfestival“), um sich später ausführlich der Debatte um die letztjährige Preisverleihung zu widmen. Auf dieser hatten mehrere Preisträger und Juroren ihre Solidarität mit den Palästinensern bekundet, was als einseitig und teilweise als antisemitisch kritisiert wurde. Diese Einschätzung wurde dann wieder selbst als Beleg dafür genommen, dass Kritik am israelischen Krieg in Gaza in Deutschland zusehends unterdrückt wird.
Auch die Berlinale sieht sich Boykottaufrufen ausgesetzt
„Ein schwieriges Erbe“, schreibt Tuttle, die dieses Erbe annimmt, indem sie die an diesem Donnerstag beginnende 75. Berlinale zu einem „Brave Space“ erklärt. In diesem „Raum des Mutes“ sollen sich insbesondere „israelische und palästinensische Filmschaffende so ausdrücken können, dass sie sich sicher fühlen“. „Wir glauben an das Recht von Filmemacher*innen“, so Tuttle, „ihre Plattformen zu nutzen, um über die Themen zu sprechen, die sie bewegen oder beunruhigen. Das ist Meinungsfreiheit. Natürlich ist es möglich, dass Menschen mit dem Gesagten nicht einverstanden sind und ihre Ablehnung zum Ausdruck bringen. Das ist ebenso Meinungsfreiheit.“
In einer Demokratie sind das Gemeinplätze, aber angesichts der gerade in Deutschland mit großer Härte geführten Debatte um den Krieg in Gaza kann es aus Tuttles Sicht vermutlich nicht schaden, sie in Erinnerung zu rufen. Schließlich sieht sich auch die Berlinale nach wie vor Boykottaufrufen wegen der angeblichen Unterdrückung israelkritischer Stimmen in Deutschland ausgesetzt. Umgekehrt kann es Tuttle nicht gefallen haben, dass einer der letztjährigen Berlinale-Sieger, „No Other Land“, auf der offiziellen Internetseite der Stadt Berlin vorübergehend als Film „mit antisemitischer Tendenz“ geführt wurde.

Tricia Tuttle, Intendantin der Berlinale, hält einen Muster-Bären in der Hand.
Copyright: Sebastian Christoph Gollnow/dpa
Offenbar ist Tuttle nicht gewillt, Filmemachern und Juroren, die sie zur Berlinale einlädt, einer Gesinnungsprüfung zu unterziehen oder deren Äußerungen auf eine mögliche Nähe zur gegen Israel gerichteten Boykottbewegung BDS zu durchleuchten. Das macht die US-Amerikanerin zwar nicht zur Garantin der deutschen Meinungsfreiheit, unterscheidet sie aber tendenziell von der letzten Bildungsministerin des Bundes.
Ganz ohne zusätzliche Absicherung des „Brave Spaces“ kommt aber auch Tuttle nicht aus. In der Frage/Antwort-Sektion der Berlinale-Webseite geht es ausschließlich um den „respektvollen und offene Dialog“ auf dem Festival. Hier finden sich ebenfalls vor allem Sätze, die man bis vor einigen Jahren noch für selbstverständlich gehalten hätte. Aber auch die explizite Warnung, dass der Ausspruch From the River to the Sea im „Bundesland Berlin bereits Gegenstand von Strafverfahren war“. Das Tragen einer Keffiyeh (eines „Palästinensertuches“) sei hingegen entgegen anders lautender Gerüchte von der Meinungsfreiheit gedeckt.

Lars Eidinger im Berlinale-Film „Das Licht“ von Tom Tykwer
Copyright: Frederic Batier/X Verleih
Auf die umstrittene „Antisemitismus-Resolution“ des Bundestags geht Tuttle in ihrer Note nicht ein, obwohl die Berlinale dort (wie die Documenta fifteen) unter den „Antisemitismusskandalen“ geführt wird, die „umfassend aufgearbeitet gehören“. In der Frage/Antwort-Sektion heißt es dazu: „Wir sind auch nicht einverstanden mit der pauschalen Einstufung der Berlinale 2024 in der Resolution als antisemitisch.“ Man könnte diese Einstufung ihrerseits auch einfach skandalös finden – aber der Bund gehört zu den Gesellschaftern der Berlinale.
Es spricht vieles dafür, dass man Tricia Tuttles Premiere weniger an den dort gezeigten Filmen, als am Umgang mit der Debatte um Antisemitismus und Meinungsfreiheit messen wird – und ob es bei der 75. Berlinale zu weiteren „Skandalen“ kommt. Zumal die Wettbewerbsauswahl kaum Rückschlüsse auf ihre ästhetischen Vorlieben und filmpolitischen Strategien zulässt. Die 19 Filme bieten die bereits von Carlo Chatrian gewohnte Mischung aus europäischem Autorenfilm, Weltkino und US-Independents, darunter Berlinale-Favoriten wie Hong Sangsoo, Radu Jude und Richard Linklater, der 1995 in Berlin mit „Before Sunrise“ einen Festivalklassiker präsentierte.
Viele hatten wohl auf eine stärkere Hollywood-Präsenz gehofft
Vermutlich hatte niemand erwartet, dass Tuttle erfolgreich in den Jagdgründen der Filmfestivals von Cannes und Venedig wildern würde. Aber auf eine stärkere Hollywood-Präsenz dürfte zumindest die Berliner Kulturpolitik gehofft haben. Die Zeiten, in denen sich die Stars auf dem roten Teppich der Frontstadt drängelten, sind allerdings vorbei, und als Schaufenster der Oscar-Saison wird die Berlinale ebenfalls nicht mehr gebraucht. Die wenigen Filme, die man guten Gewissens als glanzvolle Attraktionen bezeichnen kann, laufen in Berlin außer Konkurrenz.
In ihrer großen Zeit war die Berlinale stets auch ein Festival der Filmgeschichte. Dieter Kosslick hatte mit dieser Tradition gebrochen und die renommierte Retrospektive zugunsten eines Talentcampus bis zur Unkenntlichkeit geschrumpft. Wie Chatrian dreht auch Tuttle die Uhr nicht zurück. Sie ergänzt Kosslicks Campus stattdessen mit einer Sektion für Spielfilmdebüts. Einem anderen ihrer Vorgänger, Moritz de Hadeln, wurde einst die ihm nachgesagte Missachtung des deutschen Kinos zum Verhängnis. Tuttle scheint sich in dieser Hinsicht (noch) keine Sorgen zu machen. Zwar steckt in vier Wettbewerbsfilmen deutsches Geld, aber mit Frédéric Hambaleks „Was Marielle weiß“ ist lediglich eine im engeren Sinne deutsche Produktion vertreten.
Dafür hat Tuttle die Eröffnungsgala für Tom Tykwers „Das Licht“ reserviert. Lars Eidinger und Nicolette Krebitz spielen darin ein Ehepaar mit Kindern, dessen routiniertes Leben durcheinandergerät, als sie eine syrische Haushälterin anstellen. Angekündigt als Reflexion über eine ins Wanken geratene „heile“ Welt, könnte Tykwers Film auch von der Berlinale handeln.