Bei der lit.Cologne Spezial stellte Robert Harris seinen neuen Roman „Abgrund“ vor, der im Sommer 1914 spielt.
Bestsellerautor Robert Harris' neuer RomanEin Premierminister auf Abwegen
Diese Geschichte ist so gut, dass sie ausgedacht klingt: Ein englischer Premierminister verliebt sich eine Frau, die ungefähr halb so alt ist wie er selbst und umgarnt sie nicht nur mit romantischem Geplänkel, sondern teilt auch die brisantesten Staatsgeheimnisse mit ihr – und das zu einer Zeit, als die Welt am Rand einer Katastrophe steht.
Aber genauso sei es passiert, erzählt Bestsellerautor Robert Harris am Sonntagabend in der Comedia, in der er seinen neuen Roman „Abgrund“ im Rahmen der lit.Cologne Spezial vorstellt. H.H. Asquith hieß der Politiker, Mitglied der Liberal Party, zu diesem Zeitpunkt im Sommer 1914 61 Jahre alt und seit 1908 Premierminister des Vereinigten Königreichs.
Bis zu drei Briefe am Tag
560 Briefe schrieb der Familienvater an die damals 26-jährige Venetia Stanley. Die junge Frau aus der Oberschicht hat seine Briefe aufgehoben, aus ihnen zitiert Harris, wie er im Gespräch mit dem etwas unorganisiert wirkenden Moderator David Eisermann erzählt, Asquith hingegen hat ihre Briefe vernichtet. „Das ist doch Stoff für eine Geschichte. Also schrieb ich ihre Antworten“, so Harris.
Clever sei Stanley gewesen, an Politik interessiert, lustig, großzügig, einer der Menschen, zu deren Freundeskreis man gern zählen möchte. Mit ihrem Charme zog sie den Premierminister vollständig in ihren Bann. „Er hat ihr aus der Hand gefressen. Sie war die bestinformierte Frau in Großbritannien“, sagt der Schriftsteller. Die von Schauspielerin Anneke Kim Sarnau gelesen Stellen untermalten das eindrücklich.
Bis zu drei Briefe am Tag schrieb Asquith ihr, folgte ihr unter einem Vorwand nach Nordengland auf den Landsitz ihrer Familie, ein riesiges Anwesen mit 56 Schlafzimmern, wo er mehrere Tage verbrachte. Und das alles in einer Zeit, als die Welt, wie der Titel des Romans es verdeutlicht, am Abgrund stand. Vollkommen unvernünftig sei der Premierminister gewesen, urteilt Harris. Er sprach mit ihr über das Kabinett, las ihr Telegramme und andere geheime Dokumente vor und warf manche davon danach einfach zerknüllt aus dem Auto.
Asquiths zahlreiche Nachfahren – er hatte zehn Kinder – legen bis heute Wert darauf, dass die Beziehung der beiden rein platonisch gewesen sei. So tauchte Raymond Asquith, Earl of Oxford, Mitglied des Oberhauses und Urenkel des Premierministers, bei der Vorstellung des Romans in London auf und machte dort seinem Unmut Luft. Für Harris willkommene PR. Beweisen kann der Schriftsteller, der in seinen zahlreichen Bestsellern Geschichte ja auch gerne mal umgeschrieben hat, das Gegenteil nicht, aber für ihn liegt auf der Hand, dass es zwischen beiden um mehr als um Freundschaft ging. Und wer Asquiths Briefe liest, wird ihm nicht widersprechen. Zumal der Politiker mit Suizid drohte, als die Affäre endete.
Und der drohende Weltkrieg, den wir heute die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts nennen? Im Sommer 1914 habe die englische Politik ein drohender Bürgerkrieg mit Irland mehr beschäftigt als ein möglicher Krieg auf dem Kontinent. Und als dieser dann ausgebrochen war, seien die meisten zu Beginn noch davon ausgegangen, er sei bis Weihnachten 1914 schon wieder vorbei. Aus heutiger Sicht sei dieser „perfekte Sturm“, wie Harris es nennt, ein Wendepunkt der Geschichte, damals sei das nur sehr wenigen Menschen bewusst gewesen.
Das Wissen um die Folgen des Ersten Weltkriegs sei daher in unserer heutigen Welt, in der wieder ein Krieg in Europa tobt und die Stabilität des Kontinents gefährdet, ein großer Vorteil. „Wir können die Lehren aus der Geschichte ziehen“, sagt Harris.
Und was denkt er über Asquiths Verhalten? „Ich kann mir nicht helfen, ich habe Mitgefühl mit ihm. Es war eine unmögliche Situation.“