Kathrin Röggla erhält den Heinrich-Böll-Preis der Stadt Köln und spricht in ihrer Dankesrede über die vielfältigen Erschütterungen unserer Zeit.
Böll-Preis-Verleihung an Kathrin Röggla„Wir sind immun gegen das Gestern und panisch vor dem Morgen“
So viel Gegenwart war selten. Jedenfalls bei einer Feierstunde zur Verleihung des Heinrich-Böll-Preises der Stadt Köln. Nicht nur sagte Oberbürgermeisterin Henriette Reker zur Begrüßung, dass ihr beim Blick auf das Werk von Kathrin Röggla vor allem die Vokabel „Gegenwart“ in den Sinn komme. Auch sprang die Preisträgerin in ihrer Ansprache gleich mit dem ersten Satz hinein in die vielfältigen Erschütterungen unserer Tage: Israel und Ukraine, Antisemitismus und Rechtsruck – und „der Alltag läuft weiter“.
„Tiefenbohrungen in die Geschichte“ seien kaum noch möglich, sagte Kathrin Röggla, die aus Salzburg stammt und in Köln an der Kunsthochschule für Medien unterrichtet. Unser Lebensgefühl sei vom „jetzt jetzt jetzt“ bestimmt, vom „Regime der Gegenwart“. Dieses Stakkato halte schon so lange an, „dass wir nichts anderes mehr kennen als den Aufenthalt im Augenblick, gegenwartsversessen und immun gegen das Gestern und panisch vor dem Morgen“. Alles, was Bedeutung habe, passiere jetzt: „Unsere Aufmerksamkeit wird stets dahin gelenkt, und zu allem, was dort passiert, müssen wir sofort eine Meinung haben.“
Vieles irritiert die Autorin
„Es bräuchte dringend eine Sprache der Deeskalation, doch dafür stehen die Zeiten schlecht“, stellte sie fest. Stattdessen sei Parteinahme gefragt bei Solidaritätsadressen und in Offenen Briefen. „Aber was, wenn nach der erklärten Solidarität nichts kommt, wenn der politisch erzeugte Druck verpufft, sich nicht überträgt. Was, wenn die Geschichte sich in diesem Land weiter in eine antisemitische und aufgeheizte Stimmung bewegt, was dann?“
Vieles irritiert die Autorin. Wie denn nicht! So auch eine Friedensbewegung, die „von rechts besetzt“ werde und der man nicht mehr trauen könne: „Die neuen Friedensbewegten sind immer schon Freunde Putins oder blicken über Terrorismus hinweg, bloß, um kein Pulverfass hochgehen zu lassen.“ Und Heinrich Bölls Roman „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“, der sie als damals 17-Jährige beeindruckt hat, sei angesichts der grassierenden Hate-Kampagnen in den Sozialen Medien erschreckend aktuell.
Kann die Literatur eine Hilfe sein? Kathrin Röggla klingt pessimistisch. „Nähe“ sei das Zauberwort und „Distanz“ aus der Mode gekommen. Auch gehe es in der Literatur darum, Ambivalenzen freizulegen, die sich nicht sofort instrumentalisieren lassen. Im Moment jedoch sei sie „ratloser denn je, wie man das im Sinne eines guten Miteinanders, eines Überlebens dieser oder auch nur einer Gesellschaft umsetzen kann“.
Laudator Ulrich Peltzer, der seinerseits im Jahre 2011 den Heinrich-Böll-Preis erhalten hat, stellte fest, dass Kathrin Röggla „den Begriff des engagierten Autors“ wiederbelebt habe. Sie gebe „den Wahnsinn der Gegenwart in artistischer Nonchalance zum Besten – zu unserem Besten“. Für die vakante Position Heinrich Bölls sei „eine Anwärterin, wenn nicht Nachfolgerin“ gefunden. Aus alledem folgert er: „Ich denke, dass Heinrich Böll sie sehr gemocht hätte, ihre Aufrichtigkeit und Unverdrossenheit.“ Mit anderen Worten: „Wenn irgendwas passt, dann diese Ehrung.“
Kathrin Röggla sei sich treu geblieben in ihrem Schreiben, das Ulrich Peltzer als kritische Untersuchung von Sprache und Sprechen skizzierte. Sie verbinde akribische Recherche, gerne auch vor Ort, und skrupulöse Durcharbeitung des eingesammelten Materials. Bemerkenswert erscheint ihm das „Spielerische, Ironische, Selbstkritische“ ihrer Literatur zu sein. Kurzum: Kathrin Rögglas Werk glänze – abgesehen von der Lyrik – wie kein anderes der Gegenwartsliteratur in allen Gattungen.
Auch für Kathrin Rögglas jüngsten Roman „Laufendes Verfahren“ (S. Fischer) fand Ulrich Peltzer lobende Worte. Ausdrücklich hatte die Jury in ihrer Begründung auf dieses Werk verwiesen, in dem die Autorin den Prozess gegen die Verbrechen des „Nationalsozialistischen Untergrund“ thematisiert hat. Dazu zählt auch der Nagelbombenanschlag in der Kölner Keupstraße am 9. Juni 2004.
Eine konzentrierten wie ansprechenden Preisverleihung
Oberbürgermeisterin Henriette Reker stellte dazu fest: „Als Demokratin glaube ich an die Botschaft, die das ‚Laufende Verfahren‘ sendet: Dass wir uns mit dem Rechtsextremismus weiterhin auseinanderzusetzen haben. Der Rechtsstaat mag den Fall zu den Akten gelegt haben – unsere Gesellschaft aber darf niemals mit ihm abschließen.“ Und wenn sich im kommenden Juni der Kölner NSU-Anschlag zum 20. Mal jähre, werde das „Birlikte“-Fest nach achtjähriger Pause wiederbelebt werden.
„Birlikte“ ist die türkische Vokabel für „Zusammenstehen“. Dass es damit in der Welt zur Stunde nicht so weit her ist, machten alle Vortragenden dieser so konzentrierten wie ansprechenden Preisverleihung deutlich. Auch die Kölner Band „120 Den“. Kathrin Röggla, die „Nun-nicht-mehr-Anfangskölnerin“ aus Österreich, hatte sich das „Damenquartett“ gewünscht. Geboten wurde eine Noise-Performance, bei der elektronisch aufgerüstete Schaufensterpuppenbeine als Musikinstrumente dienten. Was soll man sagen: Die Gegenwart ist tatsächlich nicht mehr die alte.
Der Heinrich-Böll-Preis der Stadt Köln wird alle zwei Jahre verliehen und ist mit 30.000 Euro dotiert.
Der Jury gehörten neben Oberbürgermeisterin Henriette Reker an: Marion Brasch, Christof Hamann, Guy Helminger, Andreas Platthaus, Jackie Thomae und Ilija Trojanow. Außerdem noch Kulturdezernent Stefan Charles und Hannelore Vogt, Direktorin der Kölner Stadtbibliothek, sowie Vertreter aus der Politik.