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Kathrin Rögglas neuer Roman über den NSU-ProzessEin literarischer Appell, nicht wegzugucken

Lesezeit 4 Minuten
Die Autorin Kathrin Röggla wird mit dem Heinrich-Böll-Preis 2023 der Stadt Köln ausgezeichnet

Die Autorin Kathrin Röggla wird mit dem Heinrich-Böll-Preis 2023 der Stadt Köln ausgezeichnet und legt nun ihren neuen Roman über den NSU-Prozess vor

Kathrin Röggla beweist mit ihrem neuen Roman „Laufendes Verfahren“, dass sie zurecht mit dem Heinrich-Böll-Preis der Stadt Köln ausgezeichnet wird

Nachdem das Urteil im NSU-Prozess verkündet war, im Juni 2018 im Saal 101 des Oberlandesgerichts in München, forderten einige Demonstrationszüge: „Kein Schlussstrich“. Damals ging es darum, die Verbrechen des „Nationalsozialistischen Untergrund“ über das Prozessende hinaus zu untersuchen.

Diesen Aufruf bekräftigt nun Kathrin Röggla mit ihrem Roman „Laufendes Verfahren“, der an diesem Mittwoch erscheint. Eine der Stimmen im Buch spricht es aus: „Ihr könnt doch jetzt wirklich nicht behaupten, dass es das jetzt war.“

Allerdings geht es Kathrin Röggla nicht allein um die Zweifel und Leerstellen, die zurückgeblieben sind vom größten Strafprozess, der in der Bundesrepublik nach der deutschen Einheit stattgefunden hat. Vielmehr liest sich der Roman vor allem wie eine Mahnung, die Wachsamkeit hochzuhalten.

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Kein Protokoll, keine Dokumentation und keine Gerichtsreportage

Der Rechtsterrorismus, befeuert von Rassismus und Antisemitismus, bleibt eine latente Gefahr. Auch nachdem die fünf Angeklagten verurteilt worden sind aufgrund ihrer Beteiligung an zehn Morden, 15 Raubüberfällen und zwei Sprengstoffanschlägen – darunter dem Nagelbombenanschlag in der Kölner Keupstraße am 9. Juni 2004.

„Laufendes Verfahren“ ist kein Protokoll, keine Dokumentation und keine Gerichtsreportage. Der Roman setzt viele Informationen voraus und konzentriert sich auf die Wahrnehmung des NSU-Strafverfahrens durch das Publikum. Dazu führt Kathrin Röggla eine anonyme, nach eigener Aussage mit der Juristerei nur laienhaft vertraute Erzählstimme ein. Diese hält sich mitten unter den Zuschauenden auf der Empore auf.

Die Mehrzahl derer, die dort oben versammelt ist, will erfahren, „was in diesem Land geschieht.“ Mit dabei sind der „Gerichtsopa“, der „O-Ton-Jurist“, der „Bloggerklaus“ (der beharrlich behauptet, dass er nicht Klaus heiße), die „Vornamenyildiz“, die „Omagegenrechts“ und die „Frau von der türkischen Botschaft“. Eine „Community“, die an den Chor im Drama der Antike denken lässt: Hilfreich für die Vermittlung zwischen Bühne und Saal. Und immer gut für einen Kommentar.

Kathrin Röggla flicht ein kunstvoll variiertes Gewebe aus den vielen Fäden des Verfahrens. Dabei ist der Clou des Romans, dass er den Prozess schildert, als werde er noch stattfinden. Kathrin Röggla schreibt über die Vergangenheit als Zukunft, weil sie die Gegenwart meint. Leserinnen und Leser des Werks sollten sich daher auf eine vielfache Begegnung mit dem Futur I und erst recht mit dem Futur II einstellen. Das klingt etwa so: „Bis vor kurzem wird noch nicht klar gewesen sein, wo genau es sich abspielen wird (…)“

Komplexe Sache, ganz klar. Es handelt sich um einen Verfremdungs-Effekt, der den Text gehörig runterkühlt. Nicht geeignet fürs belletristische Reinkuscheln. Doch nur Mut! Wer den Roman gelesen haben wird (so viel zum Futur II), wird mit ziemlicher Gewissheit nicht nur auf eine anspruchsvolle, sondern auch anregende Lektüre zurückblicken.

„Laufendes Verfahren“ ist ein Roman zur Lage der Nation

Mit ihrem Roman unterstreicht die Autorin, dass sie am 1. Dezember sehr zurecht und endlich den Literaturpreis erhält, den die Stadt Köln im Namen von Heinrich Böll vergibt. Immerhin gilt der Nobelpreisträger weiterhin als Verkörperung des politisch engagierten Schriftstellers. Und dass Kathrin Röggla zu dieser Spezies gehört, hat sie bereits zuvor mit vorangegangenen Veröffentlichungen gezeigt.

„Hier & Jetzt“, wie der „Gerichtsopa“ sagen würde, könnte man den Eindruck haben, dass Kathrin Röggla „Poet in Residence“ der Stadt Köln sei – wenngleich dieser Posten überhaupt nicht angeboten wird. Nicht nur der Böll-Preis stellt die Verbindung her. Auch lehrt die Autorin als Professorin an der Kunsthochschule für Medien das Literarische Schreiben. Zudem erinnert sie mit „Laufendes Verfahren“ an die Translit-Dozentur der Universität zu Köln, die sie im Jahre 2019 innehatte.

Bei dieser Dozentur am Institut für deutsche Sprache und Literatur I geht es seit 2015 um die Aufbereitung eines Sujets in unterschiedlichen Medien. Genau das ist es, was Kathrin Röggla reizt. Auch jetzt wieder. Das Hörspiel „Verfahren“, in dem das Publikum die Geisterstimmen des NSU-Prozesses nicht mehr aus den Köpfen bekommt, wurde 2020 vom Bayerischen und Westdeutschen Rundfunk produziert. Die Uraufführung des gleichnamigen Theaterstücks fand im vergangenen Jahr im Saarländischen Staatstheater Saarbrücken statt.

Nun kommt noch „Laufendes Verfahren“ hinzu. Ein Roman zur Lage der Nation. Der schlägt einen Bogen von den NSU-Anschlägen bis zu den „Reichsbürgern“. Der Text ist ein literarischer Appell, nicht wegzugucken. Es gilt, den „Elefanten im Raum“, dem die Autorin bei ihrer Translit-Dozentur eine Vorlesung und in Berlin eine Installation gewidmet hat, zur Kenntnis zu nehmen. „Die eigentliche Frage ist doch“, sagt eine Romanfigur, „ist das Morden schon vorbei?“


Kathrin Röggla: „Laufendes Verfahren“, S. Fischer, 208 Seiten, 24 Euro. E-Book: 18,99 Euro.