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Booker-Preis für Samantha HarveyIm Tanzsaal des Weltraums

Lesezeit 4 Minuten
Samantha Harvey hält ihren Roman in der rechten Hand, den Booker-Prize in der linken. Sie trägt ein blaues Samtkleid.

Samantha Harvey mit dem Booker-Preis

Die britische Schriftstellerin Samantha Harvey hat den diesjährigen britischen Booker-Literaturpreis gewonnen. Jetzt erscheint der Roman auf Deutsch.

Reinhard Furrer hat ein Diktiergerät mit ins All genommen. Während der deutsche Astronaut 1985 die Erde im Spacelab umrundete, konnte er so seine Eindrücke festhalten. Im Höhenrausch beschrieb Furrer die tiefe Schwärze des Raums, seine Unendlichkeit. Und das Gefühl, im allzu flüchtigen Blick auf die Erde nicht länger Teil von ihr zu sein: „Das Blau ist das Mittelmeer. Wir sind darüber hinweg. Wir sind gar nicht mehr da!“ Ach hätte man nur, seufzte einst der russische Raketenkonstrukteur Sergei Koroljow, an Stelle eines Piloten einen Dichter ins All geschickt. Aber können Poeten nicht ohne Rückstoßantrieb allein in ihrer Vorstellungskraft reisen?

Am Mittwoch hat die britische Autorin Samantha Harvey für ihren schmalen Roman „Orbital“ den renommierten Booker-Literaturpreis gewonnen. Darin hält die 49-Jährige die Gedanken und Empfindungen von sechs Astronauten während eines Erdtages fest – vier Männer und zwei Frauen aus Japan, Russland, den USA, Großbritannien und Italien –, die an Bord der Internationalen Raumstation im freien Fall den Rest der Menschheit umkreisen, 16 Sonnenauf- und Sonnenuntergänge lang.

Eine einstimmige Wahl

Am Donnerstag erscheint das Buch unter dem Titel „Umlaufbahnen“ bei dtv, in der Übersetzung von Julia Wolf, ein glücklicher Zufall. In einer ersten Reaktion auf den für sie unerwarteten Gewinn erzählte Harvey, wie sie während der Arbeit an „Orbital“ die Nerven verloren und beinahe aufgegeben hätte: „Warum um alles in der Welt sollte irgendjemand etwas von einer Frau hören wollen, die sich an ihrem Schreibtisch in Wiltshire vorstellt, wie es ist, im Weltraum zu sein, wo doch tatsächlich Menschen dort gewesen sind? Ich dachte, ich besitze nicht die Autorität, dieses Buch zu schreiben.“

Nach einem Tag der Beratung hätte sich die Booker-Jury einstimmig für Harveys Buch entschieden, sagte Jury-Präsident Edmund de Waal. Das spiegele die „außergewöhnliche Intensität der Aufmerksamkeit der Autorin für die kostbare und prekäre Welt, die wir alle teilen“ wider. Die Crew der ISS vertritt metonymisch ihre acht Milliarden Artgenossen, deren Eigentümlichkeiten und Gemeinsamkeiten.

„So einsam sind sie in ihrem um die Erde kreisenden Raumschiff“, beschreibt Harvey anfangs die schlafende Mannschaft, „und gleichzeitig einander so nah, dass ihre Gedanken, ihre individuellen Mythologien, bisweilen zusammenfinden. Mitunter träumen sie dieselben Träume – von Fraktalen und blauen Sphären und vertrauten Gesichtern in der Dunkelheit, vom leuchtenden, energiegeladenen Schwarz des Weltraums, das ihre Sinne überwältigt. Das bloße All ist ein Panther, ungezähmt und ursprünglich; in ihren Träumen pirscht er durch ihre Quartiere.“

Die Sechs sind wie Teile eines Körpers, sind Hände, Herz, Lunge, Knochen, Seele und Bewusstsein auf einer gemeinsamen Mission, in ihren Gedanken benutzen sie oft die erste Person Plural: „Einzig eine dünne Schicht Metall trennt uns von der Leere“, heißt es etwa. Ersetzte man „Metall“ durch „Atmosphäre“ träfe dieser Satz auf uns alle zu. Warum fällt uns das „Wir“ auf Erden dann so schwer?

„Umlaufbahnen“ verströmt eine feierliche Heiterkeit

Während die Erde „in einem üppigen Schwall Mondlicht vor sich hin“ rollt, verrichten die Raumfahrenden ihre Experimente, beobachten einen „brachialen, alles mit sich reißenden“ Taifun, eine Folge der Erderwärmung, der westwärts Richtung Südasien zieht. Sie sorgen sich um die Menschen in der Gefahrenzone, die sie dort, tief unten, kennen und lieben. Und ziehen doch unweigerlich weiter, „fort von dem Planeten, den die Menschen als Geisel genommen haben“, mit 7,66 Kilometern pro Sekunde.

Selbst die Nachricht vom Tod der Mutter eines Crewmitglieds wirft sie nicht aus ihrer Bahn, aber mit der Ferntrauer drängen sich Gedanken an ihre unweigerliche Rückkehr zur Erde in die Tagesroutine. „Von hier aus gesehen“, heißt es im Buch, „gleicht die Erde dem Himmel.“ Und kurz darauf: „Wenn es stimmt, dass wir uns nach dem Tod an einen unwahrscheinlichen, kaum vorstellbaren Ort begeben, dann könnte es genauso gut dieser glänzende, ferne Himmelskörper mit seinem wunderschönen, einsamen Lichterschauspiel sein.“

Das offensichtliche literarische Vorbild für „Umlaufbahnen“ ist Virginia Woolfs experimenteller Roman „Die Wellen“ von 1931. In dem münden die inneren Monologe von sechs Freunden in ein großes Bewusstseinsmeer. Aber vielleicht sind die Unterschiede bedeutsamer als die Ähnlichkeiten: Die selbstquälerischen Gedanken der Woolf'schen Protagonisten sind den Forschern fremd, umso fragiler erscheint der Himmelskörper unter ihnen.

Dennoch verströmt „Umlaufbahnen“ eine feierliche Heiterkeit. Zwar vernehmen die ISS-Bewohner nicht ohne Neid die neuesten Meldungen der vier Kollegen, die pfeilgerade Richtung Mond unterwegs sind, aber ihre eigene Flugbahn ist wie ein Wirbeln zwischen den Schwerkraftfeldern, „im Tanzsaal des Weltraums“ nicht umsonst hat Stanley Kubrick den orbitalen Verkehr mit einem Strauss-Walzer unterlegt. „Der Mensch“, denkt einer der sechs im Halbschlaf, „ist nicht für den Stillstand gemacht.“

Samantha Harvey: „Umlaufbahnen“, deutsch von Julia Wolf, dtv, 224 Seiten, 22 Euro.