Regisseur Evgeny Titov schließt seine Shakespeare-Trilogie am Schauspielhaus Düsseldorf ab. Sein „Lear“ sieht toll aus, das war es dann auch.
Burghart Klaußner als König LearShakespeare, ersatzlos gestrichen – Eine Kritik
Heute ein König: Galt es, einen Thronsaal zu gestalten, konnten sich Bühnenbildner und Filmarchitekten von jeher nach Lust und Laune austoben. Man denke an Raum des Imperators in „Die Rückkehr der Jedi-Ritter“, dessen gewölbtes Sternenfenster totalen Zugriff auf die Galaxis demonstriert, an den Eisernen Thron aus geschmolzenen Schwertern aus der „Game of Thrones“-Serie oder an Odins vergoldeten Saal mit einem Stuhl in Gestalt einer gebogenen Parierstange im ersten „Thor“-Film.
Es ist das Theater der Macht und selten sah man es so eindrucksvoll und unheilschwanger, wie in der mit schwarzbraunem Holz vertäfelten Halle, die der Bühnenbildner Etienne Pluss für Evgeny Titovs „König Lear“-Inszenierung am Düsseldorfer Schauspielhaus gebaut hat. Die riesige Rückwand des Thrones überragt den Raum, der Narzissmus des hier residierenden Herrschers übersteigt die Gesetze der Statik: elisabethanisches Theater als „Dune“-Fantasie.
Nach diesem „Lear“ wechselt Evgeny Titov ins Opernfach
Mit dem „Lear“ beendet der russische Regisseur seine Shakespeare-Trilogie am Haus, in der er sich an dessen furchtbarsten Tyrannengestalten abgearbeitet hat: „Macbeth“, „Richard III.“, und jetzt eben der altersnärrische Lear. Der ist nicht nur kein Usurpator, er hat sich sogar freien Willens entschlossen abzudanken, tyrannisch ist nur in seinem absoluten Liebesanspruch.
Sie kennen die Geschichte: Die älteren Töchter Goneril und Regan sind nur allzu bereit, das Ego des Narzisses zu streicheln, die jüngste Tochter Cordelia verweigert jede Schmeichelei, wird prompt enterbt und verbannt, ebenso wie der aufrechte Recke Kent, der seinen König vor fataler Fehlentscheidung zu warnen versucht.
Mit dieser Inszenierung schließt Evgeny Titov auch fürs Erste seine Karriere am Sprechtheater ab. Er wechselt ins Opernfach, seine nächsten Arbeiten werden an der Wiener Staatsoper, der Opéra-Comique Paris, am Londoner Covent Garden und auf den Salzburger Festspielen zu sehen sein. Und auch die Anfangsszene im Düsseldorfer Großen Haus kommt mit gewaltigem Operndonner daher.
Die schrecklichen Schwestern Jenny Schily und Friederike Wagner lehnen ihre Unterarme auf absurd breite, fassförmige Reifröcke, stoßen mit ihren kahlen, mit Minnie-Maus-artigen Applikationen geschmückten Köpfen vor wie gierige Aasvögel; der edle Kent (Manuela Alphons) wacht blondperückt in voller Rüstung. Esther Bialas Kostüme sind ein weiterer Höhepunkt dieses Abends.
Der dritte sollte Burghart Klaußner sein und den Lear als cholerischen Despoten nimmt man ihm sofort ab, er zürnt und poltert wie im Vollbesitz seiner Kräfte, nur ein kunstvoll eingebauter Stolperer verrät die überspielte Schwäche. Die Figuren wirken, als könnten sie jederzeit in Gesang ausbrechen, als hätte Titov Verdis verschollene Partitur für den „Re Lear“ entdeckt und auf die Bühne gebracht.
Tatsächlich gelingen ihm die stummen Bilder am besten: Etwa, wenn sich ein muskelbepackter Valentin Stückl als Ehrgeizling Edmund auszieht, um sich nackt auf dem Königsthron zu aalen und in einem Handspiegel zu betrachten, oder wenn sich Goneril und Regan mit ihren Reifröcken bedrängen wie Eishockeyspieler beim Bodycheck.
Genau hier liegt aber das Problem des Abends. Die ersten beiden Teile der Trilogie, „Macbeth“ und „Richard III.“, gehören zu Shakespeares kompaktesten Werken, Titov konnte sie schlüssig in totalitaristische Albträume verwandeln.
Burghart Klaußners Spiel verliert durch die Kürzungen an Strahlkraft und Tiefe
Der „König Lear“ ist dagegen ein ausuferndes Textmonster und die Größe der Tragödie liegt gerade in ihrer Komplexität, liegt darin, wie sich A-Plot – Lear, der seine liebende Tochter verstößt und von seinen falschen Töchtern verstoßen wird – und B-Plot – der Graf von Gloucester, der einer Intrige seines unehelichen Sohnes Edmund aufsitzt, worauf sein treuer Sohn Edgar fliehen muss – spiegeln und miteinander verschränken. Aber diesen zweiten Handlungsstrang (und auch einige weitere Nebenhandlungen) hat Evgeni Titov ersatzlos gestrichen.
Er konzentriert sich, wie in seinen vorhergehenden Shakespeare-Inszenierungen, ganz auf das Schauspiel patriarchaler Macht und der Rache der Frauen, die von dieser deformiert wurden. Als Interpretation ist das legitim, aber die Striche verändern das Stück erheblich und selten zum Guten: Dass an Stelle von Edgar jetzt Cordelia (Jule Schuck) als scheinverrückter Bettler Tom den infantil gewordenen Lear begleitet, ist noch der beste Effekt der Kürzungen. Aber wenn nun Goneril ihrer Schwester Regan die Augen herausreißt (und nicht Regans Ehemann Cornwall dem alten Gloucester) bleibt das ein konsequenzloses Zitat. Und Edmund bleibt ohne Vater und Halbbruder als Motivation einzig die Lust am Ränkespiel, er schrumpft zum Bösewicht aus der Kasperbude.
Das Stück gerät ins Ungleichgewicht und das zeigt sich auch am Bühnenbild. Dreht es sich weg vom imposanten Thronsaal, bleibt abseits der Macht nur eine kalte Mauer, eine brennende Mülltonne, ein buntes Dreirad, ein Ikea-Schemel und jede Menge Müll, die stürmische Heide spielt in der Ödnis unserer Gegenwart, Lears Wahn wird als simple Altersdemenz diagnostiziert und Burghart Klaußners Spiel verliert dementsprechend an Strahlkraft und Tiefe und ohne den Spiegel Gloucesters, des anderen verblendeten Patriarchen, erscheint seine wirre Rede nur als das frauenfeindliche Geknötere eines greisen Mannes.
Nur Anne Müllers Narr – ihre Kappe ist ein nach außen gestülptes Gehirn – kann unbeeindruckt vom halbierten „Lear“ mit darstellerischer Freiheit und analytischer Schärfe agieren, sie bleibt erfreulich interpretationsresistent.
Das reicht freilich noch nicht für einen gelungenen Abend. Dieser „König Lear“ rauscht in der Rekordzeit von eindreiviertel Stunden am Publikum vorbei. Doch hat man sich einmal an Bühnenbild und Kostüm sattgesehen, werden die Minuten quälend lang.
Nächste Termine: 6., 28. Februar, 9., 20. März, Düsseldorfer Schauspielhaus, 105 Minuten, keine Pause