Sönmez spricht im Interview über die Chancen der türkischen Opposition bei der Stichwahl, die Gründe für Erdogans Stärke und die Magie des Widerstands.
Interview mit PEN-International-PräsidentSchriftsteller Burhan Sönmez: „Der Türkei stehen unruhige Zeiten bevor“
Einige Wochen vor der Wahl war die Opposition voller Hoffnung, dass sie das Erdogan-Regime ablösen könnte. Jetzt liegt Erdogan klar vor seinem Herausforderer Kilicdaroglu, ist der klare Favorit für die Stichwahl. Wie schätzen Sie die Situation ein?
Burhan Sönmez: Ich glaube, dass es ein sehr enges Rennen wird. Erdogan ist sehr stark gewesen – stärker als in den Umfragen. Die Opposition ist aber auch sehr stark – deswegen konnte Erdogan im ersten Wahlgang nicht gewinnen.
Denken Sie wirklich, dass es noch ein offenes Rennen ist? Erdogan hatte fünf Prozentpunkte Vorsprung …
Ja, ich glaube, dass die Chancen immer noch bei 50:50 stehen. Es gibt einen starken Wechselwillen, aber auch viel Rückhalt für Erdogan. Wenn die Opposition mit Herausforderer Kemal Kilicdaroglu es schafft, dass deutlich mehr von ihren Unterstützern zur Wahlurne gehen, können sie es schaffen. Ich glaube das – und hoffe es sehr.
Was würde ein Regierungswechsel aus Ihrer Sicht bedeuten?
Es würde viele Jahre dauern, bis ein funktionierender Rechtsstaat und demokratische Verhältnisse wiederhergestellt wären – Kilicdaroglu stünde im Falle eines Wahlsieges eine sehr starke Opposition samt einer Mehrheit im Parlament gegenüber – über Jahre gesicherte politische Verhältnisse, die zu einer nachhaltigen Demokratisierung führen würden, wären aus meiner Sicht eher unwahrscheinlich. Wenn Erdogan gewinnen würde, könnte er auch nicht in Ruhe weiterregieren: Dazu ist die Gesellschaft zu tief gespalten. Der Türkei stehen unruhige Zeiten bevor.
Die Türkei hat eine tiefgreifende Wirtschaftskrise erlebt, ein verheerendes Erdbeben. Erdogan gilt als autokratischer und charismatischer Führer. Folgen Menschen in Krisenzeiten eher solchen vermeintlich „starken Führungspersönlichkeiten“?
Erdogan positioniert sich als machtbewusster, patriarchischer, autoritärer und Angst einflößender Führer – Kilicdaroglu tut das Gegenteil: Er tritt bescheiden auf, betont, dass er die Menschen miteinander versöhnen will, Frieden will, nicht Kampf. Einige Kritiker interpretieren das als Schwäche – ich würde sagen, es ist eine Stärke. Kilicdaroglu ist ein Gegenentwurf zu Erdogan.
Aber dem narzisstischen Autokraten vertrauen mehr Menschen als dem bescheidenen Demokraten?
Erdogan hat die Gesellschaft ideologisch gespalten: Die meisten Menschen, die ihm folgen, folgen ihm aus ideologischen Gründen: Sie stimmen mit den Werten überein, die er propagiert: Nation, Religion, Familie, Sicherheit. Die Opposition hat die Krisen zum Wahlkampfthema gemacht – die hohen Lebenshaltungskosten, den gesunkenen Wohlstand, das Missmanagement. Das hat ihr sicherlich Stimmen gebracht – aber nicht genug.
Sie sind nicht nur Schriftsteller, sondern seit Jahrzehnten auch Menschenrechtler. Viele ihrer Freunde sind im Gefängnis. Was würde es für Sie bedeuten, wenn Erdogan weitere fünf Jahre regieren würde?
Zunächst, dass wir noch härter für Demokratie und Menschenrechte kämpfen müssten. Ich habe mich schon lange vor Erdogan gegen autoritäre Regime in der Türkei engagiert – und für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.
Sie sind daran gewöhnt, sich gegen türkische Regime aufzulehnen. In den 1980er und 1990er Jahren wurden Sie verhaftet, gefoltert, überlebten einen Mordversuch und flohen anschließend nach England ins Exil.
Ich wurde einige Male inhaftiert. Zum ersten Mal im Jahr 1984, während der Militärherrschaft, als ich 19 Jahre alt war. Zehn Jahre später, als ich Menschenrechtsanwalt war, wurde versucht, mich zu töten. Ich wurde schwer verletzt und lebte schließlich zehn Jahre im englischen Exil. Als jemand, der sich in der Türkei für Menschenrechte und Demokratie einsetzt, ist es seit vielen Jahrzehnten nichts Ungewöhnliches, ins Visier von Ermittlungsbehörden zu geraten. Für mich ist es immer selbstverständlich gewesen, zu sagen und zu schreiben, was ich denke. So ist es für viele Menschen: Widerstand ist eine Haltung für Journalisten und Schriftsteller: Wenn wir aufhören würden, Widerstand zu leisten, werden Freiheit und Demokratie in der Türkei niemals siegen.
Tausende Journalisten, Schriftsteller, Lehrer und andere Intellektuelle sind momentan im Gefängnis. Wenn Erdogan wiedergewählt würde, würden sie es bleiben.
So viele Menschen sind im Gefängnis – oder im Exil. Auch viele Freunde von mir. Die Türkei befindet sich in einem dunklen Kapitel seiner Geschichte, in weiteren fünf Jahren Erdogan würde es noch dunkler werden. Erdogan glaubt, er brauche Europa nicht mehr als Verbündeten. Die Türkei würde sich weiter in Richtung Diktatur entwickeln. Der Rechtsstaat noch weiter ausgehöhlt werden, die Pressezensur ausgeweitet. Bei einem Charakter wie Erdogan ist keine Besserung zu erwarten: Er wollte in den vergangenen Jahren immer mehr Macht – dahin wird er sich weiter bewegen. Richtung Diktatur.
Erdogan wurde von vielen vor 20 Jahren als moderater, weltoffener Politiker gesehen, der die Türkei Richtung Europa führen wollte. Während seiner Regierungszeit hat er immer mehr Macht auf sich vereint und zu einem religiösen Hardliner entwickelt. Wie würde eine neue Amtszeit ihn verändern?
Ich habe es nie so gesehen wie Teile der westlichen Politik und einige Intellektuelle: Erdogan hat sich aus meiner Sicht nie verändert, er war immer derselbe smarte Opportunist und derselbe militante Islamist. Er hat immer die Möglichkeiten ausgelotet, wie er am besten Macht generieren kann. Dass er ein radikaler Fundamentalist ist, hat er nie verhehlt. Am Anfang hat er mit Gülen paktiert, schon immer mit dem Militär – er hat sich jeweils die Partner geholt, um seine Macht zu vergrößern. Und Europa hat mit diesem Mann aus Eigeninteresse zusammengearbeitet – denken Sie an den Flüchtlingsdeal.
Was waren die größten Fehler europäischer Politik aus Ihrer Sicht?
Es begann sicherlich damit, dass Erdogan von Anfang an viel Unterstützung erhielt – ohne, dass man ihn wirklich gekannt hätte. Gleichzeitig wurde der Türkei der Weg in die Europäische Union versperrt. Statt ein multikulturelles Europa anzustreben, wurden Mauern errichtet, um Geflüchtete abzuwehren. Das brachte Erdogan in eine starke Verhandlungsposition – und den Erfolg seiner spaltenden Identitätspolitik.
Bekannte türkische Autoren wie Orhan Pamuk oder Elif Shafak sind für Ihre politische Literatur bekannt, auch ihre Bücher, die in viele Sprachen übersetzt werden, thematisieren Repression, Korruption und Widerstand. Hat die Literatur in Ländern ohne funktionierende Pressefreiheit und Demokratie eine wichtigere Funktion als in Ländern wie Deutschland?
Literatur ist etwas anderes als Journalismus – sie spricht indirekt zu uns, nicht direkt. Literatur ist Kunst, sie beinhaltet alles, und sie schließt Politik immer mit ein. Natürlich verändert die Gesellschaft, in der wir leben, unsere Kunst. Sie bleibt mitunter die letzte Möglichkeit des freien Ausdrucks.
Sie schreiben in ihrer Novelle „Istanbul, Istanbul“ über Inhaftierte, die sich mit Fantasie, mit Geschichten, retten. Inwiefern beeinflussen Ihre eigenen Repressionserfahrungen ihre Literatur?
Ich denke, meine Erfahrungen beeinflussen nicht meine Literatur – sie beeinflussen meine Persönlichkeit. Und meine Persönlichkeit mit ihren Erfahrungen beeinflusst dann wiederum meine Literatur. Alle Erfahrungen, in der Türkei, in England, in der Welt, in meinem Alltag, beeinflussen mich und können Teil meiner Literatur werden.
Sie haben vor einigen Jahren an einem Flaschenpost-Projekt dieser Zeitung teilgenommen. Ein bekannter türkischer Kollege von ihnen sagte mit dem Hinweis ab, dafür könne er ins Gefängnis kommen. Wie leben Sie als regimekritischer Intellektueller mit der ständigen Sorge, inhaftiert zu werden?
Für mich spielt Angst keiner Rolle mehr. Wirklich nicht. Ich spreche, schreibe, reise als Präsident von „PEN International“ ständig um die Welt. Natürlich könnte es sein, dass auch ich ins Visier von Ermittlungsbehörden gerate, das ist in der Vergangenheit auch passiert. In der Türkei gibt es Hunderte Autorinnen und Autoren, die politisch gegen das Erdogan-Regime schreiben – Angst ist keine Kategorie für sie. Angst ist auch für mich keine persönliche Kategorie – wohl aber eine historische und soziale. Seit 150 Jahren werden Intellektuelle im Gebiet der heutigen Türkei verfolgt und verhaftet. In jedem Jahrzehnt gab es Widerstand, Furchtlosigkeit. Das gehört zu unserer Normalität.
Aber viele Bürgerinnen und Bürger in der Türkei haben Angst – davor, die Meinung zu sagen, offenbar auch vor einem grundlegenden Wandel.
Natürlich. Die Menschen haben Familien und einen normalen Job. Sie überlegen, wie sie am besten leben und überleben können. Wir können den Menschen nicht sagen, sie müssen mutig sein und Widerstand leisten. Mein Job ist es, weiterzuschreiben und zu reden. Zu zeigen, dass sich Verhältnisse verändern lassen.
Erdogan hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten eine erfolgreiche Identitätspolitik betrieben. Religiöse und Nationalisten sind gut, Atheisten und Kosmopoliten böse, nationale Sicherheit ist wichtig, westliche Freiheitsvorstellungen sind fraglich – nach diesem Schema. Er spielt mit den Ängsten der Menschen. Warum ist solch eine anachronistische Politik so erfolgreich?
Angst triggert viele Menschen und führt zu Spaltungen der Gesellschaft. Diese Politik funktioniert auf der ganzen Welt: Denken Sie an Brasilien, Indien, Ungarn oder den USA unter Donald Trump. Sie alle argumentieren, dass das eigene Land bedroht werde, von Geflüchteten, von anderen Ländern – und nur ein starker Führer die Nation beschützen könne. Religion und Nationalismus seien die wichtigsten Werte. In Europa haben viele Menschen Angst vor Flüchtlingen – allein damit lässt sich Politik machen.
Was macht Ihnen Hoffnung, dass die Türkei sich in Richtung Demokratie bewegen könnte in den kommenden Jahren?
Die Dinge ändern sich. In der Türkei sagen wir, wenn wir einen Kampf verlieren: Lasst uns einen neuen Kessel mit Tee aufsetzen. Lasst uns einen frischen Tee trinken – und weiterkämpfen! Jetzt trinken wir als einen Tee – und kämpfen bis zur Wahl am 28. Mai. Und wenn wir verlieren sollten, setzen wir einen neuen Teekessel auf.
Zur Person: Burhan Sönmez (58) ist seit September 2021 Präsident der Schriftstellervereinigung PEN International. Seine jüngste Novelle „Stones and Shadows“ handelt von der türkischen Geschichte und erscheint bald auf Deutsch. Seine Romane wurden in 42 Sprachen übersetzt. Als er Mitte der 1990er Jahre als Menschenrechtsanwalt arbeitete und Regimegegner vertrat, wurde ein Mordanschlag auf Sönmez verübt. Er wurde schwer verletzt und lebte in der Folge für zehn Jahre im englischen Exil, bevor er in die Türkei zurückkehrte. Seit vielen Jahren pendelt er zwischen Cambridge und Istanbul.