In Köln laufen viele Strukturen islamischer und türkischer Verbände zusammen. Wie Erdogan und seine Partei AKP in NRW die Wähler mobilisieren.
Wahlen in der TürkeiDarum sind Köln und NRW so wichtig für Erdogan und die AKP
In Duisburg und Dortmund zogen Anhänger des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan am Sonntagabend (14. Mai) mit Nationalflaggen durch die Innenstadt, riefen seinen Namen und feierten siegessicher.
Gewonnen hat Erdoğan die Präsidentschaftswahl noch nicht – im ersten Wahlgang liegt er nur knapp vor seinem Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu, für eine Mehrheit reichte es aber nicht. Es wird daher am 28. Mai eine Stichwahl in der Türkei geben.
Eine Wiederwahl Erdoğans und gilt nun als wahrscheinlich – was auch an seiner treuen Anhängerschaft in Deutschland und insbesondere in Nordrhein-Westfalen liegt. Recep Tayyip Erdoğan ist bei einer großen Zahl der Türkeistämmigen hierzulande sehr beliebt.
Würden nur die Türkeistämmigen in Deutschland wählen, wäre keine Stichwahl mehr nötig
Bei den Präsidentschaftswahlen konnte Erdoğan laut der türkischen, staatlichen Nachrichtenagentur „Anadolu Agency“ 49,5 Prozent der knapp 54,7 Millionen Stimmen für sich gewinnen – Kılıçdaroğlu 44,9 Prozent. Würde man bei der Wahl nur die rund 1,44 Millionen wahlberechtigten Türkeistämmigen in Deutschland berücksichtigen, würde das Ergebnis eindeutiger ausfallen.
Erdoğan liegt mit 65,5 Prozent deutlich vor seinem Kontrahenten Kılıçdaroğlu (32,5 Prozent). Noch eindeutiger ist es in den meisten Städten in Deutschland: In Köln erhielt Erdoğan 66,8 Prozent der Stimmen, in Düsseldorf 71,1 Prozent, in Essen sogar 77,6 Prozent. Nur das Berliner Ergebnis ähnelt dem Gesamtergebnis – Erdoğan erhielt dort 49,2 Prozent. Erdoğan ist in Deutschland und vor allem in NRW also ziemlich beliebt. Zumindest bei den rund 710.000 Wählerinnen und Wählern, die ihre Stimmen hierzulande abgegeben haben: Die Wahlbeteiligung in Deutschland lag bei rund 49 Prozent, insgesamt bei 87 Prozent.
Überraschend ist das nicht. Auch bei den vorherigen Wahlen war das deutsche Ergebnis besser als das Gesamtergebnis: 2018 sicherte sich Erdoğan mit 52,6 Prozent knapp sein Amt als Staatsoberhaupt der Türkei, in Deutschland war das Ergebnis mit 64,8 Prozent eindeutiger.
Bei den diesjährigen Parlamentswahlen konnte Erdoğans AKP zusammen mit anderen Parteien als Wahlbündnis „Volksallianz“ wieder die meisten Stimmen erlangen (49,5 Prozent), auch hier zeigt sich ein ähnlicher Trend wie bei der Präsidentschaftswahl. Die Parteien, vor allem die AKP, kommen bei den türkischen Wählerinnen und Wählern in Deutschland deutlich besser an als die sozialdemokratischen CHP und die anderen Parteien der Opposition. Erdoğans Volksallianz holte hierzulande zusammen 64,6 Prozent.
Eine halbe Million Wahlberechtigte allein in NRW
Wieso sind gerade NRW und Köln so wichtig für Erdoğan?
Rund 500.000 Menschen aus NRW sind in der Türkei wahlberechtigt – weit mehr als in jedem anderen Bundesland. Als Ballungsraum mit vielen Menschen bieten sich das Ruhrgebiet, Düsseldorf und Köln für einen Wahlkampf zudem an, „weil hier sehr viele Moscheegemeinden, Kulturvereine, türkische Unternehmen und Fußballvereine an einem Tag erreicht werden können“, sagt der Journalist und Erdoğan-Kritiker Eren Güvercin.
In den Monaten vor der Wahl seien „dutzende AKP-Politiker zum Beispiel in Ditib-Gemeinden in NRW gewesen“, um Wahlkampf zu machen. Anfang des Jahres kündigte der AKP-Abgeordnete Mustafa Açıkgöz in einer Neusser Moschee die „Vernichtung“ politischer Gegner an. Durch ein dichtes Netzwerk an Verbänden, Vereinen, Unternehmen und Moscheegemeinden sei „der Mobilisierungsgrad der Wählerinnen und Wähler besonders hoch“.
Köln: „Hochburg aller islamischen und islamistischen Strukturen“
Welche Strukturen gibt es in der Region, die von der türkischen Regierung kontrolliert und gesteuert werden?
Ditib und Milli Görüş mit ihren mitgliederstarken Moscheegemeinden werden von der AKP dominiert. Beide sollen durch das türkische Präsidium für Religionsangelegenheiten Diyanet und somit durch die AKP und Erdoğan gesteuert werden.
NRW und gerade auch Köln haben „eine außergewöhnliche Bedeutung“ für die türkische Regierung rund um Erdoğan, sagt Politik- und Sozialwissenschaftler Kemal Bozay, Professor für Sozialwissenschaften an der Internationalen Hochschule in Köln. Köln sei eine „Hochburg aller islamischen und islamistischen Strukturen“.
Denn die meisten Strukturen türkischer und islamischer Verbände in Deutschland laufen in Köln zusammen – zum Beispiel haben die Ditib, Millî Görüş und der Lobbyverband UID von Erdoğans AKP-Partei ihre Zentralen in Köln.
Rechtsextreme betreiben türkische Jugendtreffs und einen Fußballverein
Auch die rechtsextreme MHP („Partei der Nationalistischen Bewegung“), die zur amtierenden Regierung gehört, und die ebenfalls rechtsextreme BBP („Große Einheitspartei“), neuer Bündnispartner der Volksallianz, haben Strukturen in der Stadt, so Bozay. Die Parteien sind die politischen Arme der in Deutschland vom Verfassungsschutz beobachteten „Grauen Wölfe“.
In Köln gibt es etwa den Verein „Köln Türk Kültür Ocagi“ mit Räumlichkeiten an der Straße Clevischer Ring in Köln-Mülheim. Die werden laut Bozay für eine Yunus-Emre-Moschee, ein Lebensmittelgeschäft, Jugendtreffs sowie Angebote speziell für Frauen genutzt. Auch der Fußballclub Türk Genc SV Köln hat dort seinen Sitz.
Durch diese weit gestreute Mischung, zu denen laut Bozay neben Moscheen, Sportvereinen und Community-Treffs auch Arbeitgeber, Dienstleister, Hilfsorganisationen und Initiativen gehören, gelingt es Erdoğan und der türkischen Regierung, viele Zielgruppen zu erreichen. Und durch die Propaganda für sich zu mobilisieren. Gerade auch junge Türkeistämmige.
Diskriminierte Türkeistämmige finden in AKP-Strukturen Halt
Wieso haben Türkeistämmige in Deutschland so eine enge Bindung zu Erdoğan?
Seit dem ersten Wahlsieg der AKP im Jahr 2002 hat Erdoğan die Politik auf die im Ausland lebenden Türkeistämmigen ausgeweitet. Sie werden als „Diaspora“ definiert, dürfen an Wahlen und Referenden teilnehmen, ohne dafür in die Türkei reisen zu müssen – Erdoğan betont ihre muslimische und türkische Identität. „Erdoğan tritt als großer Bruder auf, der sich – anders vermeintlich als der deutsche Staat – um ihre Belange und Sorgen kümmert, präsentiert sich auch als starker Führer im Kontrast zum verweichlichten Westen“, sagt Eren Güvercin. Unter Erdogan gründete der türkische Staat ein Amt für Türken im Ausland, Austausch- und Kulturprogramme wurden organisiert.
Viele der türkeistämmigen Menschen in Deutschland machten bis heute Erfahrungen mit Rassismus und Diskriminierung, sagt Kemal Bozay. Sie würden in der deutschen Gesellschaft nicht akzeptiert. Sie fühlen sich nirgendwo zugehörig. Weder der Türkei, noch zu Deutschland. Das mache sie anfällig für Erdoğans Versprechungen, sich um sie zu kümmern.
Zudem finde etwas statt, das Bozay in seinen Studien als „Selbstethnisierung“ beschreibt: Die Menschen isolierten sich von den gesellschaftlichen Werten und Normen. Ihre Identität fänden sie dann in den politisch-geprägten Strukturen wieder und finden Halt. „Dort wird ihnen gesagt: ‚Egal, was du erlebt und welche Diskriminierungen du durchgemacht hast, bei uns bist du willkommen‘“, so Bozay.
Ist die deutsche Gesellschaft am Einfluss Erdoğans Schuld?
Für Bozay ist klar, dass es in diesen Strukturen nicht die Absicht gibt, dass man sich in die deutsche Gesellschaft integriert, sondern dass man möglichst viele Menschen für die türkisch-nationalistische Identität mobilisiert. Allerdings mit Werten, die gegen die demokratische Grundordnung verstoßen. „Das ist eine Strategie, die sich in den vergangenen Jahren durch die Diaspora-Politik der AKP bewährt hat“, sagt der Sozial- und Politikwissenschaftler.
Und viele haben diese Identität mit Erdoğan als ihr „politisches Idol“ finden können: Einem, der gegenüber Europa, den USA und Israel als starker Mann aufgetreten ist und auf den Tisch gehauen hat.
Um den Einfluss türkischer Extremisten zu verringern, „muss die Gesellschaft ein Wir-Gefühl entwickeln“, ist sich Bozay sicher. Das gelinge aber nur, indem man „eine für Rassismus und Rechtsextremismus sensible Gesellschaft“ schafft.
Die deutsche Gesellschaft müsse sich daher selbst fragen, „warum Erdoğan mit seinem identitären Nationalismus einen emotionalen Zugang zu den Menschen hier gefunden hat“, meint Eren Güvercin. Würde sich die Mehrheit der Menschen mit türkischer Geschichte in Deutschland gleichberechtigt und angekommen fühlen, „dann würde keine Mehrheit Erdoğan wählen“.