Die Türkei steht vor einer historischen Wahl. Erdogan könnte sein Amt als Staatspräsident verlieren. Es steht einiges auf dem Spiel. Darum geht es.
Historische WahlWas in der Türkei auf dem Spiel steht – und warum Erdogans Hoffnung auf Deutschland liegt
Seit 20 Jahren bestimmt Recep Tayyip Erdoğan die türkische Politik. Der Mann, der als liberaler Reformer antrat und die Türkei in die EU führen wollte, hat sich längst in einen Autokraten verwandelt, der mit einem Präsidialsystem seine Macht erweitert hat, Regimekritiker ohne rechtsstaatliche Verfahren einsperren lässt und die Presse zensiert.
Erdoğan könnte bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am Sonntag, 14. Mai, verlieren – sein sozialdemokratischer Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu liegt in vielen Umfragen vorn. Arbeitslosigkeit, eine langanhaltende Wirtschaftskrise und sein Umgang mit der Erdbebenkatastrophe könnten Erdoğan die Wiederwahl kosten.
Für große Teile der Weltgemeinschaft bedeutet die Aussicht auf ein Ende des Erdoğan-Regimes die Hoffnung auf demokratische Verhältnisse in der Türkei – und eine Annäherung an Europa. Die wichtigsten Fragen und Antworten im Überblick.
Türkei-Experte: Sieg für Opposition könnte „starkes demokratisches Signal“ sein
Die Wahlen in der Türkei werden nicht nur als „historisch“ eingestuft, weil die Türkische Republik vor 100 Jahren gegründet wurde. Was steht auf dem Spiel?
„Die Wahlen stellen eine große politische Zäsur dar“, sagt der Politik- und Sozialwissenschaftler Kemal Bozay, Professor für Sozialwissenschaften an der Internationalen Hochschule in Köln und Mitglied im dortigen Zentrum für Radikalisierungsforschung und Prävention. Die 1923 von Mustafa Kemal Atatürk als Demokratie etablierte Türkische Republik ist laut Bozay im Laufe der Jahre immer weiter demontiert worden. Vor allem durch die Reislamisierung der Türkei von Erdoğan und der AKP („Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung“).
Für Erdoğan seien die Wahlen besonders wichtig, da man zum Jubiläum der Republik den politischen Wandel „zu einer islamistischen, neo-osmanistischen und nationalistischen Türkei“ weiter vorantreiben wolle, so Bozay. Sollte Erdoğans Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu von der sozialdemokratischen CHP („Republikanische Volkspartei“) gewinnen, wäre das Bozay zufolge ein „starkes demokratisches Signal“. Die Türkei entscheide am Sonntag zwischen einem „autokratischem Regime unter Erdoğan und einem demokratischen Weg in Richtung Parlamentarismus“.
Erdoğan hat Regimegegner zu Tausenden einsperren und verurteilen lassen, auf der Rangliste der Pressefreiheit belegt die Türkei aktuell Rang 165 von 180 untersuchten Ländern. Was bedeutet das für die Wahlen?
Die AKP und Erdoğan haben durch ihre Machtstellung große politische Vorteile, von denen sie im Wahlkampf profitieren. Die wichtigsten türkischen Minister kandidieren für die AKP und können staatliche Mittel für ihre Wahlpropaganda nutzen. „Es gibt eine deutliche Schieflage bei den Voraussetzungen zwischen Regierung und Opposition“, sagt Kemal Bozay. Erdoğan nutze alle Möglichkeiten des Staates für seine Wahlpropaganda, vor allem aber die Medien. Der Großteil der kritischen Medien ist konfisziert, verboten oder eingestellt worden. Dadurch können Erdoğan und die AKP eine starke Medienkampagne verfolgen – ohne ernstzunehmende Konkurrenz.
„Die AKP hat ein riesiges Instrumentarium des Drucks aufbaut, die Presse- und Meinungsfreiheit ist eigentlich im Rahmen des Wahlkampfes gar nicht vorhanden“, sagt Bozay. Das ermögliche Erdoğan einen großen Einfluss auf breite gesellschaftliche, vorrangig bildungsferne Schichten, und auch türkeistämmige Menschen in Deutschland, die Medien aus ihrem Heimatland konsumieren. Trotzdem gibt es eine Wechselstimmung in der Türkei.
Erdoğan verbündet sich mit Rechtsextremisten, Antisemiten und Hisbollah
Welche Wahlbündnisse stehen hinter Erdoğan und seinem Herausforderer Kılıçdaroğlu?
Die AKP und Erdoğan sind nach den Wahlen im Jahr 2018 im Parlament ein Bündnis mit der rechtsextremen Partei MHP („Partei der Nationalistischen Bewegung“), die als politischer Arm der Grauen Wölfe gilt, eingegangen, um eine Mehrheit zu erreichen. Die sogenannte „Volksallianz“.
Um bei der Wahl am Sonntag wieder eine Mehrheit zu erreichen, hat die AKP das Bündnis erweitert. Jetzt gehören noch die islamistisch-nationalistische BBP („Große Einheitspartei“) und die Hüda Par („Partei der Freien Sache“) dazu. Letztere ist ein Ableger der kurdisch-islamistischen Hisbollah-Bewegung, die in Deutschland als Terrororganisation eingestuft wird.
Außerdem hat sich die antisemitisch-orientierte YRP („Neue Wohlfahrtspartei“) der Volksallianz angeschlossen. Sie wurde von Fatih Erbakan gegründet, Sohn von Necmettin Erbakan. Der ehemalige türkische Ministerpräsident gilt als politischer Ziehvater von Erdoğan. Wichtig für die AKP und Erdoğan sind laut Bozay zudem viele „islamische Ordensgemeinschaften und Sekten“, mit denen Stimmen mobilisiert werden können.
Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu und die sozialdemokratische CHP befinden sich ebenfalls in einem Wahlbündnis: Zum sogenannenten „Bündnis der Nation“ gehören die nationalkonservative İYİ („Gute Partei“), die liberalkonservative DP und die islamistische SAADET („Partei der Glückseligkeit“).
Zudem haben sich diesem Bündnis zwei liberalkonservative Abspaltungen von Erdoğans AKP angeschlossen: Die DEVA („Partei für Demokratie und Fortschritt“) des ehemaligen türkischen Außenministers Ali Babacan und die GP („Zukunftspartei“) des ehemaligen türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu. „Es ist ein Bündnis, das gesellschaftspolitisch verschiedene Gruppen umfasst und damit eine neue Kraft gegen Erdoğan darstellt“, sagt Kemal Bozay.
Grün-linke Partei könnte entscheidend für das Wahlergebnis sein
In aktuellen Umfragen liegen beide Bündnisse fast gleich auf. Deshalb könnte ein drittes Bündnis um die grün-linke YSP entscheidend für die Wahl sein, glaubt Bozay. Die Partei hat angekündigt, das Bündnis der Nation und Kılıçdaroğlu zu unterstützen – ohne dafür politische Gegenleistungen zu erwarten.
Mit der YSP sympathisieren viele prokurdische und sozialistische Parteien und Organisationen, auch aus der LGBTIQ-Community.
Politiker der kurdischen HDP treten am Sonntag auf den Listen der YSP an, um das Bündnis der Nation zu stärken. Die Partei war bei der Wahl im Jahr 2018 die drittstärkste Kraft. Sie ist geprägt von Repressionen, ihre Vertreter sind teilweise gewaltsam aus Ämtern entfernt oder sogar inhaftiert worden. Erdoğan hat 2021 zudem ein Verbotsverfahren gegen die Partei eingeleitet.
Die Opposition will die Türkei zurück zur Demokratie bringen
Was würde sich in der Türkei unter einem Präsidenten Kemal Kılıçdaroğlu und dem oppositionellen Bündnis der Nation verändern?
Das Bündnis der Nation besteht zwar aus Parteien verschiedener politischen Strömungen, es hat sich aber auf ein gemeinsames Programm geeinigt. Kemal Kılıçdaroğlu soll demnach als ein unparteiischer Staatspräsident agieren.
Kılıçdaroğlu hat angekündigt, dass er zur parlamentarischen Demokratie zurückkehren möchte, die Rechtsstaatlichkeit wieder garantiert werde und er die angespannten Beziehungen zur Europäischen Union verbessern will.
Ein außenpolitischer Berater Kılıçdaroğlus kündigte an, die Türkei werde im Fall eines Wahlsiegs die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte umsetzen, in denen unter anderem die Freilassung der bekanntesten Erdoğan-Gegner gefordert wird. Unter anderem des ehemaligen Co-Vorsitzenden der HDP, Selahattin Dermirtas, sowie des Menschenrechtlers und Mäzens Osman Kavala.
Innerhalb der Nato werde die Türkei ihre Blockade im Beitrittsprozess Schwedens – und wolle weiter als Mittler im Krieg zwischen Russland und der Ukraine auftreten.
Ein Bündnis unter Kılıçdaroğlu würde auch der Istanbul-Konvention des Europarats wieder beitreten. Die Türkei ist im März 2021 von dem völkerrechtlichen Vertrag gegen häusliche Gewalt und Gewalt an Frauen zurückgetreten.
„Wenn Erdoğan – so Gott will – verlieren wird, heißt das nicht, dass der Türkei paradiesische Zustände bevorstehen“, sagt Eren Güvercin, Mitgründer der liberalen muslimischen Alhambra-Gesellschaft. „Der marode Staat, in dem Erdoğan-Vertraute an fast allen Schlüsselpositionen sitzen, muss strukturell neu aufgebaut werden. Dafür braucht es viele Jahre – und ein stabiles Koalitionsbündnis. Ob es das nach einem Wahlsieg der Opposition auf Dauer geben würde, ist ungewiss.“
Erdoğan ist für Türkeistämmige in Deutschland ein „großer Bruder“
In Deutschland erhielt Erdoğan bei den Wahlen im Jahr 2018 64,8 Prozent der Stimmen, in der Türkei waren es lediglich 52,6 Prozent. Auch seine AKP-Partei wählte eine absolute Mehrheit der 1,44 Millionen Stimmberechtigten in Deutschland. Warum ist Erdoğan hierzulande so beliebt?
Seit dem ersten Wahlsieg der AKP im Jahr 2002 hat Erdoğan die Politik auf die im Ausland lebenden Türkeistämmigen ausgeweitet. Sie werden als „Diaspora“ definiert, dürfen an Wahlen und Referenden teilnehmen, ohne dafür in die Türkei reisen zu müssen – und Erdoğan betont ihre muslimische und türkische Identität.
„Erdoğan tritt als großer Bruder auf, der sich – vermeintlich anders als der deutsche Staat – um ihre Belange und Sorgen kümmert, präsentiert sich auch als starker Führer im Kontrast zum verweichlichten Westen“, sagt Eren Güvercin. Unter Erdoğan gründete der türkische Staat ein Amt für Türken im Ausland, Austausch- und Kulturprogramme wurden organisiert. „Die deutsche Gesellschaft muss sich fragen, warum Erdoğan mit seinem identitären Nationalismus einen emotionalen Zugang zu den Menschen hier gefunden hat“, sagt Güvercin.
Für Sozial- und Politikwissenschaftler Bozay liegt es vorwiegend an den Erfahrungen mit Rassismus und Diskriminierung, die viele türkeistämmige Menschen in Deutschland machen müssen. Sie fühlen sich nicht als Teil der deutschen Gesellschaft, haben keine Identität. Auch junge Türkeistämmige nicht. In den durch die Politik der AKP dominierten und gesteuerten islamisch-türkischen Strukturen in Deutschland werden sie dann willkommen geheißen.
Türkischer Wahlkampf findet auch in Fußballvereinen und Familientreffs statt
Bis zum 9. Mai konnten Türkeistämmige in Deutschland ihre Stimmen abgeben. Wie hat Erdoğan Einfluss auf den Wahlkampf in Deutschland genommen?
Zu diesen Strukturen zählen unter anderem die Organisationen Ditib und Millî Görüş, zu denen wiederum Hunderte Moscheegemeinden in Deutschland gehören. Beide werden durch die staatliche türkische Religionsbehörde Diyanet gesteuert. Auch die rechtsextremen Parteien BBP und MHP haben Strukturen in Köln und ganz Deutschland, erklärt Kemal Bozay.
Neben Moscheen gehören zu diesen Strukturen auch Fußball- und Sportvereinen, Kulturzentren und Netzwerke für Familien, Frauen und Jugendliche sowie Arbeitgeber, Dienstleister und Hilfsorganisationen. So können verschiedene Zielgruppen erreicht werden.
Für die Wahlen hat die Lobby-Organisation UID der AKP Busse gestellt, mit denen Wählerinnen und Wähler von Moscheen aus zu den Wahlurnen in den Generalkonsulaten gebracht wurden. Immer wieder traten auch AKP-Abgeordnete in Ditib-Moscheen auf, in Hamburg wurden Wahlflyer verteilt. Eren Güvercin spricht von „rund 120 AKP-Abgeordneten, die in den vergangenen Monaten in Deutschland und anderen EU-Ländern Wahlkampf betrieben haben“. Viele von ihnen hätten Fotos aus Moscheen gepostet – „manche gepaart mit scharfer Wahlkampfrhetorik“.
Ditib-Chef sagt, dass Moscheen nicht aus Ankara gesteuert werden
Der neue Ditib-Chef Muharrem Kuzey verwies gegenüber dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ darauf, dass in Ditib-Moscheen Politiker aller Parteien willkommen seien, die Ditib „überparteilich und unabhängig von Ankara“ sei. „Das ist glatt gelogen, die Öffentlichkeit soll für dumm verkauft werden“, sagt Güvercin. „Eine Organisation, die als Religionsgemeinschaft und Körperschaft öffentlichen Rechts anerkannt werden möchte, sollte ein Mindestmaß an Glaubwürdigkeit haben. Wenn sie jeglichen politischen Einfluss Erdoğans leugnet, hat sie diese für mich nicht – das widerlegen allein die Belege und politischen Aussagen von Dutzenden AKP-Abgeordneten in Ditib-Moscheen, die ich gesammelt habe.“
Für Bozay ist klar, dass es in diesen Strukturen nicht die Absicht gibt, dass man sich in die deutsche Gesellschaft integriert, sondern viele Menschen für die türkisch-nationalistische Identität mobilisiert. „Das ist eine Strategie, die sich in den vergangenen Jahren durch die Diaspora-Politik der AKP bewährt hat“.
Die Opposition kann derweil nicht auf diese Strukturen zurückgreifen und ist auf Ehrenamt sowie Spenden angewiesen.
AKP droht damit, das Wahlergebnis nicht anzuerkennen
Was geschieht, wenn weder Erdoğan noch Herausforderer Kılıçdaroğlu am Sonntag eine absolute Mehrheit erreichen?
Dann wird es am 28. Mai zu einer Stichwahl kommen. Mit offenem Ausgang.
Die Chancen auf eine Entscheidung im ersten Wahlgang sind allerdings gestiegen, da der dritte Präsidentschaftskandidat Muharrem İnce kurzfristig angekündigt hat, nicht mehr anzutreten. In Umfragen war er auf zwei bis vier Prozent der Stimmen gekommen. İnce, der bei der Wahl 2018 für die CHP antrat, sagte, er wolle nicht, dass der größere Oppositionsblock hinter Kılıçdaroğlu ihn für eine mögliche Niederlage verantwortlich mache.
Es werden Unruhen befürchtet, wenn die Opposition gewinnt. Der Präsidentschaftskandidat Kılıçdaroğlu warnte in einem TV-Interview vor Bewaffneten, die dann auf die Straße gehen könnten. Denn aus Kreisen der AKP-Regierung wurden wiederholt Drohungen ausgesprochen, falls es zur Wahlniederlage kommt.
Generell scheinen die Wahlen der aktuellen Regierung der Türkei ein Dorn im Auge zu sein: Der türkische Innenminister Süleyman Soylu nannte die sie Ende April einen „politischen Putsch des Westen“.
Der kurdischen HDP, die Erdoğans Kontrahenten Kılıçdaroğlu unterstützt, wird von der AKP-Regierung vorgeworfen, der PKK („Arbeiterpartei Kurdistans“) nahezustehen. Erdoğan sagte deshalb bei einer Rede am 1. Mai: „Mein Volk wird keinem Präsidenten, der durch die Unterstützung der PKK an die Macht gekommen ist, dieses Land übertragen“.