AboAbonnieren

Caspar David FriedrichWas die deutsche Romantik mit dem Trauma eines 13-Jährigen zu tun hat

Lesezeit 5 Minuten
Zwei Schwäne schwimmen im fahlen Mondlicht auf dem Wasser.

Caspar David Friedrichs „Schwäne im Schilf“ aus dem Frankfurter Goethe-Museum

Tilman Allert erklärt in einem neuen Buch das Werk Caspar David Friedrichs neu. War die Romantik nur ein grausamer Spuk?

Am 8. Dezember 1787 wäre Caspar David Friedrich beinahe ertrunken. Er war 13 Jahre alt und wurde von seinem um ein Jahr jüngeren Bruder Christoffer gerettet, der bei seinem Rettungsversuch zu Tode kam. Über die genauen Umstände des Dramas ist nichts bekannt. Jahrzehnte später, als Friedrich ein berühmter Maler war, schmückten Weggefährten die Geschichte aus. Aber es gab keine Zeugen, und der überlebende Bruder blieb uns seine Version schuldig. Sicher wissen wir nur, was im Kirchenbuch der St. Nicolai Kirche in Greifswald steht: „Den 8.12.1787 ist des Lichtgießers selig Sohn, alt 12 Jahr, da er seinen ins Wasser gefallenen Bruder retten wollte, ertrunken.“

Aus Sicht der Kunstgeschichte hat sich das Opfer, sofern man einen tragischen Unfalltod so nennen will, gelohnt. Umstritten ist lediglich, ob und wie es das Werk des großen Romantikers beeinflusste. Die Mehrheit der Friedrich-Forscher lehnt es ab, die existenzielle Einsamkeit seiner Figuren und die Ahnung des Göttlichen in den öden Landschaften aus biografischen Erlebnissen abzuleiten, lesen sich diese auch noch so schicksalhaft. Aber es gibt eine hartnäckige Opposition gegen diese Lehrmeinung, zu der auch Tilman Allert, Autor einer klugen, bei Schirmer/Mosel erschienen Schrift, gehört.

Allert verzichtet darauf, die vielen Schicksalsschläge, angefangen beim frühen Tod der Mutter, im Leben Friedrichs aufzuzählen und sein Argument durch die schiere Masse trauriger, vielleicht traumatischer Ereignisse auszupolstern. Er beruft sich stattdessen auf ein kleines, selten beachtetes Bild des Malers, die „Schwäne im Schilf“. Es ist für ihn der Schlüssel, um das Drama des ertrunkenen und geretteten Bruders zu verstehen - und letztlich der Schlüssel zu Friedrichs gesamten Werk.

Caspar David Friedrich malte die „Schwäne im Schilf“ um das Jahr 1820

Caspar David Friedrich malte die „Schwäne im Schilf“ um das Jahr 1820, heute hängt es im Frankfurter Goethe-Museum. Es zeigt zwei Schwäne, die, umgeben von hohem Schilfgras, bei fahlem Mondschein auf einem Weiher schwimmen. Alles an diesem Kleinformat ist Stimmung: die kaum erhellte Düsternis, der einsame Abendstern am Himmel, das flüchtige Glitzern auf dem Wasser. Diese Landschaft bietet Menschen weder einen festen Grund unter den Füßen noch einen Horizont – die durchs Gras blickende Mondsichel wird zum einzigen Halt. Allein die beiden Schwäne ficht die menschliche Perspektive nicht an. Sie treiben auf dem Wasser, einander zugewandt und zugetan.

Es fällt leicht, eine Todesahnung in dieses Bild hineinzulesen und es als stummen Schwanengesang zu deuten. Aber darum geht es Allert gerade nicht. Er sieht in der Darstellung der beiden Schwäne vor allem das geglückte Miteinander betont, die „Utopie einer Kooperativität im Verhältnis zueinander“. Oder etwas banaler formuliert: Die beiden Tiere begegnen einander als gleiche. Niemand schuldet dem anderen etwas, weil er, der Gerettete, den anderen nicht retten konnte.

Allert ist Sozialpsychologe, was man seiner Sprache mitunter anmerkt. Er erklärt das Drama des ertrunkenen Bruders aus der „situativen Handlungslogik“ als „Scheitern im Gelingen“. Während der jüngere Bruder den älteren aus dem Wasser rettet, gelingt diesem das gleiche nicht. Er kann nicht zurückgeben, was ihm geschenkt wurde: das Leben. Dieses Schuldgefühl begleitet ihn für immer, und deswegen erscheint dem Maler das „reziproke“ Miteinander der Schwäne als unerreichbare Utopie.

Tilman Allert erinnert uns daran, dass sich das gelebte Leben nicht ignorieren lässt

Man mag sich tatsächlich kaum vorstellen, dass das Winterdrama keine Spuren im Leben und Werk Caspar David Friedrichs hinterlassen hat: Zwei Knaben allein unter dem kalten Himmel, in existenzieller Not, und weit und breit niemand, der ihnen helfen könnte. Schließlich sieht der Gerettete seinen Retter untergehen – und spürt zitternd die eigene Machtlosigkeit. Allerdings bleibt jede Deutung der Ereignisse spekulativ, allein schon, weil es keine Zeugen gab. Auch der Schreiber des Kirchenbuchs musste auf das vertrauen, was der Überlebende berichtete. Was hält uns also davon ab, in Caspar David Friedrich den Mörder seines Bruders zu sehen?

Selbst wenn wir Friedrich keinen Steckbrief anheften, lässt sich kaum seriös abschätzen, welche Auswirkungen das Kindheitsdrama auf sein Seelenleben hatte. Mitunter ergeht sich Allert in psychologischen Ferndiagnosen, die nicht schon deswegen überzeugender werden, weil er Sigmund Freud und Søren Kierkegaard hinzuzieht. Auch bei den Beweisen im Werk muss man, wie die Schwäne zeigen, um die Ecke denken; lediglich die frühe Zeichnung eines „Knaben auf dem Grabhügel“ geht umstandslos als Form der Trauerarbeit durch.

Allert führt einige Indizien dafür auf, warum sich Friedrichs Lebensthema, „das Gestalten des Unaussprechlichen“, aus dem biografischen Erleben herleiten lässt. Arg konstruiert wirkt die oft beschriebene „versunkene Haltung“ von Friedrichs Figuren, dagegen böte das erlittene Trauma eine interessante Deutung für die zahlreichen Rückenansichten in Friedrichs Werk. Folgt man Allert, gibt es auf seinen Bildern für die Menschen kein menschliches Gegenüber mehr, weil dem Maler das Antlitz des Bruders entglitten ist. An dessen Stelle tritt eine unbestimmte Ferne.

Ein Manko biografischer Herleitungen liegt darin, dass sie den Deutungshorizont verengen. Allert versucht dieser Gefahr zu entgehen, indem er beispielsweise den zahlreichen christlichen Motiven in Friedrichs Werk eine Tiefendimension verleiht. All die Kreuze und Kathedralen sind für ihn Zitate, mit denen der Maler bestimmte Lesarten aufruft (der Opfertod Christi), die sich aber letztlich auf den Opfertod des eigenen Bruders beziehen. Am Ende kann Friedrich das eine Opfer nicht mehr ohne das andere denken, was die Intensität seines Glaubens in ungeahnte ästhetische Höhen treibt: „Im Horizont der einzigartigen lebensgeschichtlichen Erfahrung“, so Allert, „entsteht die Disposition, sich zum Gefäß und Werkzeug zugleich zu machen.“

Muss die Forschung also pünktlich zu den Friedrich-Jubelfeiern (am 5. September jährt sich sein Geburtstag zum 250. Mal) umdenken? Das vielleicht nicht. Aber Tilman Allerts schmaler Band erinnert uns daran, dass sich das gelebte Leben nicht ignorieren lässt. Es meldet sich zu Wort, ob man das als Künstler (oder Interpret) nun will oder lieber nicht.


Tilman Allert: „Caspar David Friedrich. Schwäne im Schilf“, Schirmer/Mosel, 48 Seiten, 24,80 Euro