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Louvre säubert MeisterwerkEin wehmütiger Blick auf Antoine Watteaus „Pierrot“

Lesezeit 6 Minuten
Ein junger Mann im weißen Clownskostüm blickt uns an.

Clown mit rätselhaftem Blick: Ausschnitt aus Antoine Watteaus „Pierrot“

Der Louvre restauriert eines seiner größten Meisterwerke. Muss uns deswegen bange sein? Wir betrachten Antoine Watteaus „Pierrot“.

Als Papst Johannes Paul II. am 8. April 1994 die restaurierten Deckenmalereien der Sixtinischen Kapelle enthüllte, trauten viele Betrachter ihren Augen nicht. Mehr als zwei Jahrzehnte hatten italienische Experten an Michelangelos weltberühmten Meisterwerk gearbeitet und schließlich die Fresken vom Schmutz der Jahrhunderte befreit. Jetzt leuchteten die Farben so frisch und hell, dass nicht wenige, die sich um ihre Erinnerungen betrogen fühlten, falschen Schein vermuteten. Andere feierten die Restaurierung als Rückkehr zu den Quellen von Michelangelos Genie.

Ganz so kontrovers werden die Reaktionen mutmaßlich nicht ausfallen, wenn der Pariser Louvre eines seiner berühmtesten Gemälde, Antoine Watteaus „Pierrot“, im Herbst nach einem Abstecher in die Restaurierungswerkstätten neu präsentiert. Der traurige Clown soll schließlich nicht gründlich überarbeitet, sondern nur, wie der Louvre schreibt, „gesäubert“ werden, bevor er ab 16. Oktober den Mittelpunkt einer dem Rokoko-Maler gewidmeten Ausstellung bilden wird. Andererseits verspricht deren Titel einen „neuen Blick auf Watteau“ – da kann einem durchaus mulmig werden.

Selbstredend sind im Louvre die Besten ihres Fachs am Werk. Aber ein gewisses Unbehagen bleibt, und sei es nur aus Furcht, gewohnter und lieb gewonnener Farbnuancen beraubt zu werden. Am liebsten wäre es uns, wenn Gemälde wie der „Pierrot“ oder die „Mona Lisa“ nur von unseren Blicken berührt würden – und niemand seine noch so berufene Hand an sie legen dürfte. Zumal sich der Weltruhm dieses rätselhaften Werks nicht zuletzt durch seine delikate Stimmung erklärt.

Wie die „Mona Lisa“ ist der „Pierrot“ eine Erfindung des 19. Jahrhunderts

Wie die „Mona Lisa“ ist der vermutlich in den Jahren 1718/19 entstandene „Pierrot“ eine Erfindung des 19. Jahrhunderts – um 1860 stand Antoine Watteau im Zentrum einer wahren Rokokomanie. Während sich stilbewusste Pariser Bürger mit seinen Motiven Luft zu fächerten, überboten sich die Künstlerkreise darin, ihn als Propheten ihrer eigenen Vorstellungen und Sehnsüchte zu feiern. Bei den Brüdern Edmond und Jules de Goncourt klang das so: „Watteau ist der erste moderne Künstler im schönsten und interessantesten Sinn des Wortes“, schrieben sie in ihrer Kunstgeschichte des 18. Jahrhunderts. „Er suchte nach dem Ideal, verachtete das Geld, nahm keine Rücksichten auf das Morgen und lebte ein Leben voller Zufälle, ein Leben der Bohème.“

Obwohl die Goncourts hier mehr von ihrer eigenen Epoche als von einem Maler des frühen 18. Jahrhunderts sprachen, hat sich Watteaus Bild als aus seiner Zeit gefallenes Genie gehalten – und es bestimmt auch unseren Blick auf „Pierrot“, sein berühmtestes Gemälde. Im Antlitz des zunächst irrtümlich „Gilles“ genannten volkstümlichen Clowns wurde beinahe so viel entdeckt wie in Leonardos „Mona Lisa“.

Allein die Frage, welchen Ausdruck Pierrot im Gesicht trägt, füllt Bände der Watteau-Forschung. Hartnäckig hält sich der Glaube, vor uns stünde ein Selbstporträt des bereits dem Tode geweihten Malers und eine Ikone moderner Verlorenheit. Manche Kunsthistoriker vergleichen den Clown sogar mit Jesus Christus – einsam und allein dem Gespött der Menge preisgegeben. So ließe sich immerhin erklären, warum eine banale Figur in einer Größe porträtiert wurde, die bis dahin Königen vorbehalten war.

Ein Clown steht auf einer Bühne, während im Hintergrund Schauspieler Faxen machen.

Antoine Watteaus „Pierrot“ im Musée du Louvre

Es wäre albern, dem „Pierrot“ vorzuwerfen, dass man mehr aus ihm herausliest, als sein Schöpfer aller historischen Wahrscheinlichkeit nach in ihn hineinlegen konnte. Ganz im Gegenteil: Die anhaltende Faszination des Gemäldes liegt nicht zuletzt darin, dass es auf den ersten Blick eindeutig erscheint und immer rätselhafter wird, je länger man es betrachtet. Wobei Watteau keinen Zweifel daran aufkommen lässt, wer die Hauptperson des Bildes ist.

In der Mitte steht ein jüngerer Mann und füllt vom behüteten Kopf bis zu den verzierten Füßen beinahe das gesamte Hochformat. Er trägt das traditionelle Pierrot-Kostüm reisender Theatergruppen, die ihr Publikum vor allem auf Jahrmärkten fanden: Pluderhose und Pluderjacke, Hut, Schuhe mit roten Schleifen. Ganz in Weiß gekleidet, füllt er die Rolle des tölpelhaften Dieners aus, der, als Gegenstück zum gewitzten Harlekin, von den anderen Figuren nach Herzenslust verspottet wird.

Seine Peiniger sind im Mittelgrund zu sehen: Von links kommt der Doktor standesgemäß auf einem Esel hereingeritten, auf der rechten Seite erwarten ihn der rotgewandete Kapitän, Isabella und Léandre, der Mann mit dem Hahnenkamm. Sie alle gehören zum Stammpersonal der volkstümlichen Komödie im Frankreich des frühen 18. Jahrhunderts, und so dürfen wir annehmen, dass wir einer Theatertruppe bei der Ausübung ihres Berufes zusehen.

Das Rokoko war ein Spiel mit Illusionen, im Theater fand Watteau ein dankbares Sujet

Die Frage ist allerdings: bei welchem Teil ihres Berufs? Denn allein der regungslose Pierrot steht auf der deutlich erhöhten Bühne, während die übrigen Figuren von dieser halb verdeckt werden. Lediglich Reiter und Esel blicken wie der Clown ins unsichtbare Publikum, die anderen Schauspieler beobachten den Auftritt des schelmischen Arztes. Offenbar findet das Stück hinter der Bühne statt, und Pierrot scheint daran nicht teilzunehmen. Ist sein Darsteller noch in seiner Rolle oder bereits aus ihr herausgefallen? Und warum machen die anderen Akteure einfach weiter?

Möglicherweise lässt uns Watteau darüber bewusst im Ungewissen; jedenfalls ist es den Forschern nicht gelungen, seine Figurenkonstellation auf eine historische Spielszene zurückzuführen. Ungeklärt bleibt auch, ob der Bildhintergrund einen künstlichen Bühnenprospekt zeigt oder eine natürliche Landschaft – so natürlich eine Landschaft sein kann, über der am rechten Bildrand die Statue eines Mannes wacht.

Das Rokoko war ein Spiel mit Illusionen, und im Theater fand Watteau ein dankbares Sujet, weil es den Hang zur Täuschung von Natur aus in sich trägt. Auf seinen Bildern von Schauspielern im Freien vermischen sich die Rollen, es ist schwer zu entscheiden, wo das Spiel aufhört, und die Wirklichkeit beginnt. Darin spiegelt sich eine Entwicklung des frühen 18. Jahrhunderts: Unter den Bürgern wuchs damals die Überzeugung, dass selbst Könige nicht die Verkörperung einer göttlichen Ordnung sind, sondern lediglich Hauptdarsteller auf der Bühne irdischer Konventionen.

Der Kunsthistoriker Donald Posner vermutet, dass Watteau auf seinem Gemälde keine Spielszene zeigt, sondern das Ende eines Possenspiels: Die Akteure marschieren lärmend um ihre Bühne, machen mit dem störrischen Esel noch einen letzten Scherz und bereiten ihren Abgang vor. Währenddessen steht der Anführer der Theatergruppe auf dem Podest und sammelt den Beifall ein. Gleich wird er den Hut abnehmen und den Dank des Publikums auch in klingender Münze fordern.

Es wäre eine denkbar alltägliche, ja banale Auflösung – und gerade diese kunstvoll hergestellte Alltäglichkeit macht das Bild einzigartig in seiner Zeit. In voller Lebensgröße steht kein König und keine Kunstfigur vor uns. Sondern ein Mensch, der, wie wir alle, einfach seine Rolle spielt.