Herr, schmeiß Hirn vom Himmel!Deutsche Schlager-Rapper erobern die Charts
- War früher alles besser? In den Musikcharts ganz bestimmt! Sicher? Na gut, vielleicht auch nicht.
- Jede Woche hört sich unser Kolumnist Marcus Bäcker in seiner Glosse „Neu in den Charts” durch die Hitliste – und findet dabei Entsetzliches wie Schönes.
- Grundsätzlich sollte man sich als Journalist hüten, Leser zu beschimpfen. Dennoch möchte er diese Woche mal fragen: Wie muss man gestrickt sein, um den Platz 1 der deutschen Single-Charts gut zu finden? Und warum geht es immer um Gucci?
Köln – Die deutschen Single-Charts haben einen neuen Spitzenreiter, das Lied beginnt so: „Na na na na na na / na na na na na la la la la la la.“ Nach diesem verheißungsvollen Auftakt gibt es inhaltlich und lyrisch schon bald kein Halten mehr, dargeboten werden Zeilen für die Ewigkeit, ich verneige mich in Ehrfurcht. „Ja, ich liebe Dein Gucci-Kleid / Und bitte tritt nicht auf die weißen Nikes / Und ich tanz’ mit Dir die ganze Nacht im Kreis / Baby, Du bist meine Nummer Eins.“ Tja.
Grundsätzlich sollte man sich als Journalist hüten, Leser zu beschimpfen. Da ich aber optimistisch davon ausgehe, dass sich in meiner Zielgruppe keine Anhänger von ausgesuchtem Schund und geballter Nichtigkeit befinden, möchte ich also jetzt doch mal fragen: Wie muss man gestrickt sein, um so etwas gut zu finden?
Mit Apache 207 und Shirin David war die Konkurrenz für Capital Bra hart
Gucci-Kleid, geil, ey? Das im Zusammenhang mit den jüngsten Wahlergebnissen und diversen anderen politischen Ereignissen, und ich bin beinahe geneigt, jede Hoffnung fahren zu lassen. Zumal sich der Herr offenbar trotz inständigen Bittens noch immer weigert, Hirn vom Himmel zu schmeißen. Dabei würde es gerade so furchtbar dringend gebraucht.
Bliebe natürlich noch die Frage, wer saturiert, spießig und ignorant genug ist, derartige Textzeilen unters partiell zahlungswillige Volk zu bringen. Unter Verdacht stehen fraglos so ziemlich alle Vertreter des deutschen Schlager-Raps.
In diesem konkreten Fall ist es der notorische Capital Bra, was man unter anderem an den nicht minder notorischen Braaaaaa-Rufen erkennt, sie sind leider die inhaltlich substantiellsten klanglichen Artikulationen in dem Liedchen, das „Nummer 1“ heißt und wirklich an der Chartspitze landet, kein Scherz.
Kleiner Tipp: Irgendwo Gucci unterbringen
Dabei war die Konkurrenz hart. Schlager-Rapper Apache 207 etwa hat die Zeichen der Zeit erkannt und versucht es in seinem Smash-Hit „Roller“ mit „Mein Kopf platzt, Gucci-Sandalen, ich trag’ sie nur aus Trotz“ (Rang 2), während Shirin David in „Brillis“ Cartier, Chopard und ihren „Benzer“ ins Spiel bringt. Hätte sie auch noch Gucci untergebracht, wäre für sie wohl mehr als Platz 3 herausgesprungen – nur mal als Tipp.
Raus aus dieser traurigen Reihe tanzen mal wieder der Rapper und Sänger Trettmann und das Berliner Produzententeam KitschKrieg. Nils Frahm spielt Klavier, dazu kommen Beats, und Trettmann fällt rein gar nichts zu Gucci ein, vielmehr erzählt er davon, dass er auf einem Rave war und dort eine Frau kennengelernt hat, die er gerne wiedersehen würde.
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Damit holt er die Zuhörerinnen und Zuhörer ab, anschließend geht es ans Eingemachte: „Steine aus Messing auf meinem Weg / Beug mich nach vorn / Hier wohnte ’ne Frau mit ’nem Namen / Les’ Zahlen / Geboren in den 20er Jahren / Abgeschoben nach Polen / Deportiert im April /Ermordet in den letzten Tagen.“ Und später dann: „Schlingen werden wieder geknüpft / Messer wieder gewetzt / Nein, nicht woanders / Hier und jetzt / Der Schoß noch fruchtbar / aus dem das kroch ...“
Soll keiner behaupten, es ginge nur noch hohl und irrelevant. Platz 77 für „Stolpersteine“.