„Chernobyl“ in der KritikErfolgreiche HBO-Serie ist PR-Supergau für Russland
- Es ist die bislang schlimmste Katastrophe in der Geschichte der zivilen Nutzung von Atomenergie.
- Eine amerikanisch-britische Serie widmet sich nun eindrücklich dem Supergau von Tschernobyl.
- In Russland sind viele erbost darüber. Doch warum?
Kiew/Moskau – Eine heftige Explosion sprengt den Reaktor im sowjetischen Kernkraftwerk Tschernobyl regelrecht auseinander. Feuerwehrleute kämpfen ohne Schutz gegen Flammen - und sterben später qualvoll im Krankenhaus. Die radioaktive Wolke weht bis nach Deutschland.
33 Jahre nach dem Supergau etwa 110 Kilometer nördlich der ukrainischen Hauptstadt Kiew bringt das Drama „Chernobyl“ ungeahnte Aufmerksamkeit. In Russland und der Ukraine wird kontrovers über die Miniserie der Bezahlsender HBO und Sky diskutiert. Rund um die Atomruine boomt der Katastrophentourismus.
Scharen von Touristen zieht es in die Sperrzone zu den Überresten des Reaktors. Und das nicht erst, seit die fünfteilige amerikanisch-britische Serie im Mai ausgestrahlt wurde und damit das Unglück von 1986 realitätsnah ins Gedächtnis zurückrief. „Chernobyl“ gilt bereits als einer der großen Serienerfolge in diesem Jahr.
100 000 Touristen erwartet
Zu dem Unglücksort kamen allein im ersten Quartal nach Angaben der Verwaltung der Sperrzone über 9200 ausländische Besucher. Das seien doppelt so viele wie im Vorjahreszeitraum. Für das gesamte laufende Jahr werden erstmals 100 000 Besucher erwartet - mehr als zehnmal so viele wie 2014. Selfies von Touristen im Internet, einige davon freizügig, sorgen dabei für Empörung in sozialen Netzwerken. Den Zugang beschränken will die Zonenverwaltung jedoch nicht.
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Tschernobyl-Reiseführer Nikolaj Fomin relativiert den Ansturm: „Für mich sieht es wie die Spitze aus, und ich kann sagen, dass die Welle bereits abebbt.“ Und: „Nach der Ausstrahlung der Serie interessierten sich die Leute mehr für die Geschichte der Katastrophe, die Namen der Beteiligten und den Verlauf der Ereignisse nach der Havarie“, sagt der 31-Jährige der Deutschen Presse-Agentur.
Weite Landstriche sind noch heute radioaktiv belastet
Am 26. April 1986 war es im Reaktor 4 des Kernkraftwerks zur Katastrophe gekommen, deren Spätfolgen bis heute zu spüren sind. Tausende Menschen starben infolge strahlungsbedingter Erkrankungen. Mehrere Zehntausend Menschen mussten aus einer 30 Kilometer großen Sperrzone umgesiedelt werden. Weite Landstriche sind noch heute radioaktiv belastet.
Diesen Supergau hat der US-amerikanische Drehbuchautor Craig Mazin in seinem Drama „Chernobyl“ aufgearbeitet. Im Mittelpunkt steht der Chemieexperte Waleri Legassow (Jared Harris), der gemeinsam mit dem stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrats, Boris Schtscherbina (Stellan Skarsgård), mit dem Unfall betraut wird.
„Leider kam der Film aus dem Westen“
In der Ukraine nahm der Fernsehsender „1+1“ spontan die Serie in sein Programm auf. Russland will dagegen in zwei eigenen Streifen seine Sichtweise auf die Ereignisse darlegen. In der Talkshow nach der Ausstrahlung sagt der frühere Pilot Igor Pismenski: „Leider kam der Film aus dem Westen.“ Seiner Ansicht nach hätte eigentlich Kiew „Chernobyl“ drehen müssen.
Die Serie nimmt ihre Zuschauer mit auf eine Reise zum Mittelpunkt des Reaktors. Sie fühlen sich so nah den Ereignissen, dass sie die nicht sichtbaren Folgen der tödlichen Strahlung spüren. Der Feuerwehrmann von Tschernobyl wird zum Helden. Dagegen findet die russische Boulevardzeitung „Express“: „Die Angelsachsen haben einen falschen Film über die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts gedreht.“
Kommunisten in Russland wollen Serie verbieten
Die Kommunisten in Russland, die noch als Kleinpartei im Parlament sitzen, forderten, die Serie dürfe nicht gezeigt werden. Sie sei „ein ideologisches Instrument, um die Sowjetregierung und das sowjetischen Volk zu diffamieren“. Der frühere sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow, der auch als historische Figur in der Serie zu sehen ist und sie sich „unbedingt“ anschauen wollte, hatte nach der Katastrophe mal gesagt, Tschernobyl sei der Beginn vom Ende der Sowjetunion gewesen.
Nicht alles in „Chernobyl“ basiert auf Fakten: Wassili Kutscherenko, einst Polizist in der damals geräumten Stadt Prypjat, regt der hohe Wodka-Konsum in der Serie auf. „Das ist alles Stuss!“, sagte er der ukrainischen Zeitung „Westi“. Ihnen seien keine Wodka-Kisten hingestellt worden. Sie hätten Rotwein getrunken. Und er versichert: „Es fielen keine toten Vögel vom Himmel.“
Deutsche Umweltschützer hoffen durch die Serie auf Aufmerksamkeit
Deutsche Umweltschützer von Greenpeace hoffen, dass mit „Chernobyl“ die Gefahren der Atomkraft wieder ins Bewusstsein rücken. „Ein vielleicht zukünftiger Reaktorunfall könnte sogar noch viel schlimmere Auswirkungen haben“, sagte Atomexperte Heinz Smital der dpa. Der Unfall war die bis dahin die schlimmste Katastrophe in der Geschichte der zivilen Nutzung von Atomenergie.
Für Russland ist die Serie vor allem eines: ein PR-Supergau. Noch immer sind Kernkraftwerke vom selben Typ am Netz. Das Land liefert weiter Brennstäbe in die Ukraine. Der neueste Clou der Russen: ein schwimmendes Atomkraftwerk, das auf dem Seeweg quasi überall hingebracht und dort betrieben werden kann. Mit all seinen Gefahren. (dpa)