Touristen-Boom wegen SerieSind Ausflüge nach Tschernobyl nicht gefährlich?
Köln – Vor 33 Jahren kam es in Tschernobyl zur Katastrophe. Schon seit einigen Jahren können Touristen die verstrahlte Sperrzone besuchen. Jetzt erleben Touren dorthin durch die US-Serie "Chernobyl" einen Boom. Ein Strahlen-Experte erklärt, wie gefährlich Reisen in dieses Gebiet sind.
15 Kilometer von der weißrussischen Grenze entfernt liegt die ukrainische Stadt Tschernobyl. Vermutlich hätte außerhalb der Umgebung kaum ein Mensch je Notiz von der damals 14.000 Einwohner großen Ortschaft genommen. Doch am 26. April 1986 ereignete sich eine Katastrophe, deren Spätfolgen bis heute – 33 Jahre später – international spürbar sind.
Am frühen Morgen des 26. April 1986 kommt es in dem sowjetischen Atomkraftwerk zu einer Explosion, der Reaktorkern schmilzt. Die Explosion in Reaktor 4 des örtlichen Kernkraftwerks kostete mehr als 50 Menschen sofort das Leben. In den Jahren darauf stieg die Opferzahl dramatisch. 4000 Menschen starben durch die Strahlung an Krebs. Andere Schätzungen sprechen laut der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) von insgesamt bis zu 100.000 Toten durch den Atomunfall. Rund 330.000 Menschen wurden auf dem Gebiet von 150.000 Quadratkilometern evakuiert – die Sperrzone rund um den havarierten Reaktor wurde mit einem Radius von 30 Kilometern gezogen und existiert nach wie vor.
Warum reisen Menschen freiwillig ins Sperrgebiet von Tschernobyl?
Die Szenerie der überstürzt verlassenen Sperrzone zieht schon immer Touristen an, die den besonderen Kick suchen: Sie sehen verlassene und trotz der Strahlung geplünderte Häuser, ein Schwimmbad ohne Wasser, in dem seit mehr als 30 Jahren niemand mehr geschwommen ist und ein Vergnügungspark mit einem verrosteten Riesenrad, das niemals eröffnet wurde.
Tschernobyl ist zum Symbol für das Risiko der Atomkraft geworden – und zu einem Anziehungspunkt für sogenannten Dark Tourism. Doch anders als andere Orte des dunklem Tourismus geht vom Kraftwerk noch heute eine radioaktive Strahlung aus, auch die Umgebung ist verstrahlt.
TV-Serie über den Atomunfall war ein großer Erfolg
2018 sollen nach Schätzungen 70.000 Touristen das radioaktiv kontaminierte Sperrgebiet in der Ukraine besucht haben. In diesem Jahr werden es voraussichtlich noch mehr sein. Schon jetzt melden örtliche Tour-Anbieter einen Buchungsanstieg von 30 bis 40 Prozent. Ein Grund für den diesjährigen Touristen-Boom ist die US-amerikanische Erfolgsserie „Chernobyl“, die in Deutschland seit Mai von Sky ausgestrahlt wird.
Die Tourismus-Branche bedient die große Nachfrage. Im Internet gibt es jede Menge All-Inclusive-Angebote. Über das Portal Urlaubspiraten etwa reisen Touristen für 260 Euro von Deutschland aus für drei Nächte nach Kiew und machen von dort aus einen 12-stündigen Tagestrip ins 120 Kilometer entfernte Tschernobyl.
Besucht werden sollen unter anderem Prypjat, die Stadt, die für die Arbeiter des Atomkraftwerks gebaut wurde, das Kraftwerk selbst und die Duga, ein ehemaliges russisches Raketenspähsystem. Das Mittagessen wird in dem einzigen Restaurant in Tschernobyl serviert – auf Anfrage auch vegetarisch. Viktoria Brozhko führt die Besucher durch die Sperrzone. Sie besteht darauf, dass der Besuch für Touristen keine Gefahr darstellt: „Die Leute fragen mich ganz viel zur Serie und dem, was hier passiert ist. Sie sind einfach neugierig und wollen viele Einzelheiten wissen.“
Wie gefährlich ist ein Besuch in der Todeszone überhaupt?
Die Überreste des Reaktors schirmt eine Stahlhülle ab. Der darunter liegende Betonsarkophag ist brüchig. Für den Besuch der Sperrzone um das havarierte Atomkraftwerk benötigen Reisende eine Erlaubnis. In der Geisterstadt Prypjat gibt es Hotels und seit 2017 ein Hostel. Doch sind Reisen in das Sperrgebiet rund um Tschernobyl gesundheitlich bedenklich?
Sven Dokter, Sprecher der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) gibt auf Nachfrage Entwarnung – unter bestimmten Bedingungen: „An einer offiziell organisierten Tour teilzunehmen, ist nicht gefährlich.“ Nach Informationen aus der Ukraine soll die Strahlendosis, die Teilnehmer einer solchen Tour erhalten, bei unter 0,005 Millisievert liegen. Das liegt noch deutlich unter der Dosis, die man beispielsweise bei einer Röntgenaufnahme beim Zahnarzt oder beim Flug von Deutschland in die Ukraine erhält.“
Zum Vergleich: In Deutschland gilt ein Grenzwert für die effektive Dosis, die ein einzelner Mensch pro Jahr durch die Nutzung von Radioaktivität etwa in Atomkraftwerken, der Industrie oder der Forschung erhalten darf, bei einem Millisievert pro Jahr.
Touristen dürfen niemals ohne die Reisegruppe durch Gelände laufen
Darüber hinaus sind wir im Alltag weiterer Strahlung ausgesetzt, etwa durch Flugreisen oder Röntgenaufnahmen. „Aus diesen Quellen erhält der Durchschnittsmensch in Deutschland im Jahr ungefähr 4 Millisievert, wobei die Hälfte davon durch die natürliche Strahlenbelastung verursacht wird. Bei medizinischen Anwendungen kann man durchaus auch deutlich höhere Strahlendosen erhalten – bei Computertomographien stößt man schnell in Bereiche zwischen 5 und 20 Millisievert vor“, so Dokter.
Auf einem Trip durch Tschernobyl sollten sich Besucher aber unbedingt an die kommunizierten Regeln halten, mahnt der Strahlen-Experte. Niemals sollten Touristen auf eigene Faust durch das Gelände laufen. Denn vor Ort herrscht nicht überall dieselbe Strahlung. Manche Orte seinen verstrahlter als andere.
Niemals einen Stein, eine Pflanze oder anderes „Souvenir“ aus der Sperrzone mitnehmen
„Vor allem in dem Bereich um die Anlage herum befinden sich an verschiedenen Stellen sogenannte Hotspots. Das sind meist kleinere, eng umrissene Flächen, auf denen es deutlich stärker strahlt als in der Umgebung. An diesen Stellen können zum Beispiel kleinste Partikel des Kernbrennstoffs liegen, die beim Unfall durch die Explosion aus dem Reaktor geschleudert wurden. Außerdem wurden an einigen Stellen in der Nähe der Anlage kurz nach dem Unfall kontaminierte Trümmer vergraben.“ Die Lage dieser sogenannten ‚waste dumps‘ sei aber durch zahlreiche Messungen gut bekannt und werden bei Führungen umgangen.
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Absolut tabu ist es, sich ein „Urlaubs-Souvenir“ wie Steine, Pflanzen oder andere Gegenstände aus der Sperrzone mitzunehmen. „An solchen Gegenständen könnten sich radioaktive Partikel befinden. Generell macht es deshalb auch Sinn, möglichst wenig anzufassen und sich – wie auch sonst – vor dem Essen die Hände zu waschen“, so der Sprecher der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit.