Zwölf Jahre lang ließ Chimamanda Ngozi Adichie die Welt auf einen neuen Roman warten. Jetzt liegt er mit „Dream Count“ endlich vor. Und ist eine Wucht.
Chimamanda Ngozi AdichieDer Weltstar der Literatur kehrt zurück

Die nigerianische Autorin Chimamanda Ngozi Adichie
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Vier Frauen begegnen uns in Chimamanda Ngozi Adichies neuem Roman „Dream Count“. Da ist Chiamaka, kurz Chia, die in Maryland lebende Tochter reicher Nigerianer. Sie teilt das Schicksal vieler Kinder reicher Eltern: Vor lauter Möglichkeiten findet sie keine Richtung im Leben, jede Arbeit bleibt ein Hobby. Einen Roman will sie schreiben, biegt jedoch bei erster Gelegenheit links ab und beschließt, sich als Reiseschriftstellerin zu versuchen.
Eine Zeit lang sah es so aus, als wäre auch Chimamanda Ngozi Adichie den schönen Ablenkungen erlegen, die der erste große Erfolg mit ihrem Roman „Americanah“ – eines der besten Bücher des jungen Jahrtausends – mit sich brachte. Millionen klickten ihre TED-Talks, verfolgten ihre glamourösen Auftritte – etwa als sie vor dreieinhalb Jahren Angela Merkel zum Tête-à-Tête auf der Bühne des Düsseldorfer Schauspielhauses traf – und ihre öffentlichen Kontroversen. Noch ein paar Millionen mehr lernten ihre klugen Einwürfe auswendig, als Beyonće sie sampelte. Der Ruhm überstrahlte die literarischen Referenzen. Die Rolle der, wenn auch nicht unumstrittenen, feministischen Heldin füllte Adichie perfekt aus, aber wo war die Autorin geblieben?
Chimamanda Ngozi Adichie fühlte sich lange von ihrem kreativen Selbst ausgeschlossen
Über viele Jahre hinweg, erzählte die Autorin in Interviews, habe sie sich von ihrem kreativen Selbst ausgeschlossen gefühlt. Sie schrieb Essays, Sachbücher, aber sie sehnte sich danach, wieder loslassen zu können, um zu erschaffen. Tatsächlich hat „Dream Count“ etwas von einem Wachtraum, in dem sich Erzählungen zu immer neuen Erzählungen entfalten und man dennoch nie das Gefühl sicheren Dahingleitens verliert. Erzählt wird vom ersten Corona-Lockdown aus. Dessen introspektive, sich unsicher durch die angehaltene Zeit tastende Stimmung hat Adichie perfekt eingefangen.
Ihrer Hauptprotagonistin Chia hat sie dagegen ihr Talent zur schlagend enthüllenden Beobachtung fremder Kulturen vererbt. Eine Reisereportage über Kopenhagen beginnt diese folgendermaßen: „Heute Morgen hätte mich beinahe eine elegante Frau auf dem Fahrrad umgefahren, weil ich auf der anderen Straßenseite stand und abwesend beobachtete, wie elegante Frauen auf dem Fahrrad zur Arbeit fuhren.“ Allein, ob solche Texte nicht nur als Entschuldigung für rastloses Jetsetten dienen, da kann sich der Leser nie ganz sicher sein.
Drei Frauen mit gehobenen Ansprüchen, die wie die Nollywoodversion von „Sex and the City“ wirken
Chiamakas beste Freundin Zikora hat es als Einwanderin zur erfolgreichen Anwältin in Washington D.C. gebracht, Chias Cousine Omelogor ist in Nigeria geblieben und hat in der Hauptstadt Abuja eine Blitzkarriere im Bankenwesen hingelegt – hauptsächlich, indem sie für den Chef ihres Instituts elegantere und effektivere Wege der Geldwäsche entwickelt hat.
Zusammen wirken diese drei toughen Frauen mit gehobenen Ansprüchen beinahe wie die Nollywoodversion von „Sex and the City“, zumal die Partnerwahl, beziehungsweise deren beständiges Misslingen, Thema Nummer Eins bleibt. Chia träumt von der großen, umwerfenden Liebe, gerät an unterkühlte Akademiker, liebevolle, aber leider bereits verheiratete Kollegen, Ideal-Schwiegersöhne nach nigerianischen Vorstellungen, denen dann selbstredend die Hochspannung einer stürmischen Mesalliance abgeht. Ihre Anwaltsfreundin wünscht sich Kinder, eine Familie, doch die potenziellen Kandidaten entpuppen sich als „Zeitdiebe“. Als die innere Uhr schon auszuticken droht, verschwindet der vermeintliche Traummann gleich nach dem ersten positiven Schwangerschaftstest – Zikoras Story hatte Adichie bereits vor ein paar Jahren als Kurzgeschichte veröffentlicht. Und Omegolor, die Cousine? Die liebt ihre Unabhängigkeit immer ein wenig mehr als ihre Männer.
In der Verkürzung klingt das nach einer Ansammlung von Klischees, nach Cocktail-Klatsch mit Feminismus-Schirmchen. Aber es ist ja ein Roman, zum Glück, und Adichie nimmt sich auf seinen mehr als 500 Seiten die Zeit und den Raum, diese drei „independent women“ in ein Netz aus elterlichen Erwartungen, nigerianischen Bräuchen und den nötigen Brüchen mit beiden einzubetten. Es geht nicht zuletzt auch darum, die vorangegangen Generationen zu verstehen.
Eigentlich, schreibt die Autorin in einer Nachbemerkung, handele der Roman von ihrer Mutter, deren Tod sich für sie anfühlte, als würde „die Schutzdecke über meinem Leben weggerissen“. Deshalb werden hier immer wieder Mutter-Tochter-Beziehungen durchgespielt, hinterfragt, neu bewertet.
Es geht auch um alles andere als harmlose Traditionen wie die Klitoris-Verstümmelung
Spürte Adichie in „Americanah“ vor allem den feinen (und nicht so feinen) Unterschieden zwischen Afrikanern und Afroamerikanern nach, betrachtet sie in „Dream Count“ Westafrika unter der Lupe der Auswanderinnen, mit Distanzwunsch und Sehnsucht nach Nähe zugleich: die Spannungen zwischen Volksgruppen und Religionen, der unverblümte Materialismus, die Kochkünste, harmloser Aberglaube und alles andere als harmlose Traditionen wie etwa die der Klitoris-Verstümmelung.
Letztere muss die vierte Frau, deren Geschichte hier erzählt wird, als junges Mädchen erleiden: Kadiatou ist Chias guineische Haushälterin, sie stammt aus ärmsten Verhältnissen, ihr fehlt die Bildung, die Übersicht, das Selbstvertrauen, das finanzielle Sicherheit mit sich bringt.
In ihrem Zweitjob arbeitet die Mutter einer Teenager-Tochter in einem Washingtoner George-Plaza-Hotel. Als sie dort eine Suite auf der V.I.P.-Etage saubermachen will, wird sie von einem Gast vergewaltigt. Kadiatou möchte den Vorfall nur hinter sich lassen, sie hat viel zu große Angst, ihren Job zu verlieren. Aber eine Kollegin geht mir ihr zum Geschäftsführer. Die Dinge nehmen ihren Lauf. Scheint es erst, als würde der prominente Täter bestraft werden – in Amerika, empört sich ihr Anwalt, müssen auch wichtige Menschen für ihre Verbrechen bezahlen –, wendet sich die öffentliche Stimmung schnell gegen Kadiatou. Sie passt nicht in die Rolle des perfekten Opfers.
Adichie greift hier die Vergewaltigungsvorwürfe des New Yorker Zimmermädchens Nafissatou Diallo gegen den damaligen IWF-Präsidenten Dominique Strauss-Kahn auf, als könnte sie die Gerechtigkeit nachträglich herbeischreiben.
Das muss ein Traum bleiben, aber er verleiht „Dream Count“ den Furor, der den Roman über das Gros ähnlich gelagerte Geschichten von Freundinnen und Familien, von Müttern und Töchtern hinaushebt.
„Dream Count“ ist im S. Fischer Verlag erschienen, 528 S., 28 Euro