Fatma Ademirs Familien- und Gesellschaftsroman „Dschinns“ ist das Buch für die Stadt und die Region.
Das ist das „Buch für die Stadt“ 2024Ein wuchtiger Familienroman
Bald wird das gute Leben endlich losgehen, davon ist Hüseyin Yilmaz überzeugt. 30 Jahre lang hat er sich in deutschen Fabriken im Schichtdienst den Rücken krumm und die Knie kaputt gearbeitet, um mühsam das Geld zusammen zu sparen für eine Eigentumswohnung in Istanbul. Dorthin will er mit seiner Frau Emine ziehen, wenn auch Ümit, der jüngste Sohn, mit der Schule fertig ist. Jeden Cent hat er zweimal umgedreht, immer sparsam gelebt. Doch hier will er sich und seiner Familie nun endlich etwas gönnen.
Im ersten - und im letzten Kapitel - von Fatma Aydemirs Familienroman „Dschinns“ spricht die Erzählerstimme die Figuren direkt an: „Warum wolltest du gerade nach Istanbul kommen? Was weißt du von diesem Ort? Ist es wirklich dieser Ort, nach dem du dich sehntest, oder bloß eine Erinnerung? Eine Erinnerung an das Entkommen aus der Heimat, an den Zwischenstopp vor der Fabrik, an den Ort, an dem es nicht mehr um das Vergessen ging und noch nicht um das Arbeiten.“
Das Gift des Schweigens hat sich schleichend ausgebreitet
Doch Hüseyin, der in einem kleinen Dorf aufwuchs und Istanbul nur von der Durchreise kennt, wird diese Fragen nicht mehr beantworten. Fatma Aydemir gönnt ihm dieses späte Lebensglück, diesen Neuanfang nicht. Als Hüseyin zum ersten Mal in der Wohnung ist, erleidet er einen Herzinfarkt und stirbt.
Mit Wucht, Wut und dennoch viel Wärme erzählt die 1986 in Karlsruhe geborene Schriftstellerin und Journalistin von einer Familie, die ihre gemeinsame Sprache verloren und in der sich das Gift des Schweigens schleichend ausgebreitet hat. „Dschinns“ ist ein außergewöhnlich intensiver Roman, der deshalb in diesem Jahr das „Buch für die Stadt“ ist.
Die 1990er Jahre werden in der Rückschau von vielen Deutschen zum sorglosen Jahrzehnt verklärt. Der Kalte Krieg war vorbei, zu Techno und Eurodance tanzte man durch eine Welt, die einfacher und glücklicher schien. Fatma Aydemir kann diese Euphorie nicht teilen. Denn dieses Jahrzehnt ist nicht nur von Hedonismus und Aufbruchsstimmung geprägt, sondern auch von den Ausschreitungen und schrecklichen Anschlägen in Mölln, Solingen und Hoyerswerda. Menschen mit einem sogenannten Migrationshintergrund fürchteten um ihr Leben. Ihren zweiten Roman lässt Aydemir daher ganz bewusst am Ende dieses Jahrzehnts spielen.
Das Gefühl, nicht dazuzugehören, kennt Familie Yilmaz aber nicht erst seit den rechten Gewalttaten. Die Arbeitskraft von Vater Hüseyin war erwünscht, die Kultur, Sprache, Träume und Wünsche der Familie hingegen nicht.
Der Tod des Vaters ist Ausgangspunkt des Romans, die Familie reist auf unterschiedlichen Wegen aus Deutschland an. Weil die Beerdigung bald erfolgen muss, drängt die Zeit. Es sind sehr unterschiedliche Charaktere, die da aufeinandertreffen – oder vielleicht besser prallen.
Das Trauma der Heimatlosigkeit haben die Eltern an ihre Kinder vererbt
Mutter Emine wurde nie heimisch in Deutschland. Ihre kurdische Herkunft verschwiegen sie und Hüseyin sogar den Kindern. Nach dem Militärdienst hatte er seiner Frau verboten, Kurdisch zu sprechen. „Hüseyin hatte dir erst deine Muttersprache genommen und dich dann in ein Land gebracht, in dem du gar keine Sprache mehr hattest. Es fühlt sich an, als habe er dich verraten.“
Jeden Tag hat sie alles getan, um die Familie zusammenzuhalten. Dank oder Verständnis bringen sie ihr dafür nach ihrem Empfinden aber nicht entgegen. Die Brüche in ihrer Biografie verschweigt sie. Warum immer alle davon sprechen, glücklich sein zu wollen, versteht sie nicht. Sie will nicht hinterfragen, ob auch ein anderes Leben möglich gewesen wäre: „Würdest du damit anfangen, würde auch noch der letzte Strick reißen, der dich an deinem Dasein hält, und du würdest den Boden unter den Füßen verlieren, hättest nichts mehr, an dem du dich festhalten könntest.“
Das Trauma der Heimatlosigkeit haben die Eltern an ihre Kinder vererbt. Da ist die älteste Tochter Sevda, die die Eltern bei ihrem Umzug nach Deutschland zunächst bei den Großeltern ließen und die diesen Verlust ihres Urvertrauens nie überwunden hat. Benannt wurde sie, so sagte man ihr, nach einer älteren Schwester, die im Alter von einem Jahr starb. Zur Schule durfte sie nicht gehen, sie heiratete früh, bekam zwei Kinder. Nun hat sie sich zur Restaurantbesitzerin hochgearbeitet, aber ihre Tochter Bahar, die die zweite Klasse besucht, muss ihre Entschuldigung selbst schreiben, weil sie das schon besser kann als die Mutter.
„Dschinns“ ist ein wuchtiger Familien- und Gesellschaftsroman, der lange nachwirkt
Sohn Hakan schlägt sich mit halbseidenen Deals durchs Leben und versucht, seine Männlichkeit durch teure Autos unter Beweis zu stellen. Tochter Peri studiert Germanistik in Frankfurt, haut ihrer Mutter feministische Zitate von Simone de Beauvoir und Judith Butler um die Ohren und weiß doch nicht, was sie vom Leben erwartet. Und der jüngste Sohn Ümit versucht zu verbergen, wie unglücklich er in seinen Schulfreund Jonas verliebt ist.
Im islamischen Glauben ist der Dschinn ein Lebewesen, das gemeinsam mit den Menschen die Welt bevölkert, aber unsichtbar bleibt. Es sind die Geister der Vergangenheit, die alle Familienmitglieder auch in der Gegenwart verfolgen. Fatma Aydemir stellt in jedem Abschnitt eine Person in den Mittelpunkt der Erzählung. Aus den sechs Passagen setzt sich das Puzzle einer Familie zusammen, die nie gelernt hat, über ihre Ängste und Wünsche zu sprechen und deren Sprachlosigkeit dazu führt, dass die Wunden, die sie einander und die die Gesellschaft ihnen zugefügt hat, nicht heilen. Fatma Aydemir findet für jedes Familienmitglied einen eigenen, passenden Ton, die Geschichten der Kinder werden von denen der Eltern eingerahmt.
„Dschinns“ ist ein wuchtiger Familien- und Gesellschaftsroman, der lange nachwirkt und bis in unsere Gegenwart hinein strahlt. Die bösen Geister der Vergangenheit sind eben nicht vertrieben, wie die vielen rechtsextremen Anschläge in den vergangenen Jahren und das Erstarken der AfD schmerzhaft unter Beweis stellen.
Das Buch für die Stadt ist eine Literaturaktion von Literaturhaus Köln und „Kölner Stadt-Anzeiger“. Die Jury bildeten Bettina Fischer (Literaturhaus Köln), Hildegund Laaff (Lengfeld'sche Buchhandlung), Martin Oehlen (Literaturblog „Bücher-Atlas“) und Anne Burgmer („Kölner Stadt-Anzeiger“).
Die Sonderausgabe des Romans erscheint am 15. August im dtv Verlag. Vom 10. bis 17. November wird es eine Aktionswoche in Köln und der gesamten Region geben. Die Matinee mit Fatma Aydemir zum Auftakt findet am Sonntag, 10. November, im Schauspiel Köln statt. Wer in der Aktionswoche eine Veranstaltung beisteuern möchte, ist sehr willkommen. Wir werden dazu bald eine Seite freischalten, auf der Sie Veranstaltungen eintragen können. Unterstützt wird die Initiative vom Unternehmen JTI. (ksta)