Christoph Heins neuer Roman „Narrenschiff“ spiegelt anhand von Lebenswegen über drei Generationen hinweg die Geschichte der DDR von ihrem Aufgang bis zum Ende.
„Das Narrenschiff“ von Christoph HeinRoman erzählt vom Lebensalltag in der DDR

Porträt von Erich Honecker in der Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn.
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Das Thema DDR, deren zweifelnd-oppositioneller Bürger Christoph Hein seit seinem neunten Lebensjahr war, hat den jetzt 81-Jährigen bis heute nicht losgelassen. Nach 1990 entwickelte er sich zum nahezu repräsentativen kritischen Chronisten der deutschen Vereinigung und der mit ihr verbundenen Fehlentwicklungen und Traumata – bis hin, in dem Roman „Guldenberg“, zum aufblühenden Rechtsextremismus in den neuen Bundesländern. Im fortgeschrittenen Lebensalter scheint Christoph Hein sich nun sogar verstärkt zu seinen eigenen lebensgeschichtlichen Anfängen zurückzuwenden.
Dem stark autobiografisch getönten Prosawerk „Unterm Staub der Zeit“, das sich dem dramatisch erhitzten Leben in West- und Ostberlin in der Zeit unmittelbar vor dem Mauerbau widmet, folgt jetzt mit „Das Narrenschiff“ nicht weniger als eine groß angelegte Epochendiagnose in Erzählform. Tatsächlich wird hier anhand der verknüpften Lebenswege eines knappen Dutzends von Ostdeutschen über drei Generationen hinweg die Geschichte der DDR von ihrem Aufgang bis zum Ende gespiegelt. Der von zwei seiner Figuren aufgegriffene Titel geht auf die altehrwürdige Schiffsmetapher für ein Staatswesen zurück; wenn dieses Staatsschiff allerdings von Narren bevölkert und gesteuert wird, ist es dem Untergang in den Fluten der Zeit geweiht.
Die Geschichte der DDR von ihrem Aufgang bis zum Ende
Mit Sebastian Brants berühmtem vorreformatorischem „Narrenschiff“ hat das übrigens nichts zu tun: Es geht hier nicht um satirische Übertreibung in der Schilderung von Lastern und Torheiten, sondern um die Strukturfehler eines Gemeinwesens, das dank der wahnhaften Selbst-Verabschiedung aus allen Realitätszusammenhängen nicht funktionieren konnte. Und aus Sicht der Beteiligten um die Antwort auf die Frage, warum einem Unternehmen, das nach Faschismus und Krieg auf der (mutmaßlich) „richtigen“ Seite der Geschichte begonnen hatte, binnen weniger Jahre jede Hoffnung auf eine bessere Zukunft abhandenkam. Es ist eine Frage, die mutmaßlich auch den Autor bis zur Stunde umtreibt.
Man wird das Buch insoweit einen Schlüsselroman nennen dürfen, als der Autor selbst versichert, er habe nur Personen geschildert, „die ich zu meiner Freude oder meinem Leidwesen persönlich kennenlernte“. Die Namen wurden allerdings verändert und dem Nicht-Eingeweihten auch sonst die Wege zur Re-Identifizierung wirkungsvoll verstellt. Da könnten nur aufwändige Recherchen abhelfen. Klar, hinter „Markus Fuchs“ steckt – das bekommt der Leser mit – der Spionagechef Markus Wolf, und die Inhaber der höchsten Ränge im Staatsapparat von Ulbricht bis Honecker werden nicht verschlüsselt.
Leichen im Keller
Aber Hein kam es erkennbar vor allem darauf an, mit seinem Personaltableau zwischen Schuhverkäufer und Wirtschaftstheoretiker eine gewisse soziale Repräsentativität abzudecken. Im Zentrum stehen allerdings drei „Intellektuelle“ samt ihren Familien, die von Lebensweg, charakterlicher und mentaler Prägung her wiederum sehr unterschiedliche Vertreter der „staatstragenden“ Schicht sind. Vielen von ihnen ist indes gemeinsam, dass sie Leichen im Keller ihrer vormaligen Existenz haben. Da ist etwa Johannes Goretzka, ein Experte in Schwarzmetallurgie, der nicht nur mit lediglich einem Bein aus dem Krieg in Russland zurückkehrt, sondern auch eine massive Nazi-Vergangenheit hinter sich hat, diese allerdings unter den neuen Verhältnissen mit kommunistischer Linien-Übertreue kompensiert. Seine Frau Yvonne, die als alleinerziehende Witwe eine freudlose Versorgungsehe mit dem engstirnigen und humorfreien Krüppel eingeht, kommt erst allmählich dahinter.

Christoph Hein
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Dann besagter Wirtschaftswissenschaftler Karsten Emser, der die Stalinschen Terrorjahre in Moskau gleichfalls nicht ohne innere Schäden überstanden hat. Am unproblematischsten ist da noch der jüdischstämmige und homosexuelle Shakespeare-Experte Benaja Kuckuck, der sein Exil in England absolviert hatte und in der DDR gelandet war, weil er wegen seiner kommunistischen Einstellung im Nachkriegs-Westen keine Chance hatte. Diese drei samt zwei Ehefrauen bilden ein berufliches und dann auch privates Beziehungsgeflecht mit regelmäßigen gemeinsamen Abendessen, das freilich Belastungsproben ausgesetzt ist. Die Männer, allesamt vorderhand tadellose Parteikommunisten, geraten nämlich wegen geringfügiger „Abweichungen“ ins Visier ihrer Oberen und müssen Schurigeleien, Zurücksetzungen und Karriereknicke hinnehmen. Emser und Kuckuck sterben übrigens zeitlich im Umfeld des Mauerfalls von 1989 – die Zeit geht buchstäblich über sie hinweg.
Die großen Ereignisse der DDR-Geschichte – 17. Juni, Mauerbau, Ablösung Ulbrichts durch Honecker, Mauerfall – sind in diese privaten Geschichten interpoliert. Oder umgekehrt. Das Individuelle und das Allgemeine gehen jedenfalls immer wieder eine dichte Verbindung ein. Hein nimmt sich allerdings auch die Freiheit, lange Zeiträume zu raffen. Die 70er Jahre zum Beispiel, als die Erschütterungen infolge der Biermann-Ausbürgerung in der Rückschau den Anfang vom Ende der DDR markierten, werden mehr oder weniger übersprungen. Deutlich wird immerhin, dass die nachwachsende Generation mit der verknöcherten Ideologiefixierung der Älteren nichts mehr anzufangen weiß, amerikanische Musik hört und brennend gern nach Paris und New York reisen würde. Da bricht dem ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaat die Basis weg.
Fast protokollartiger Stil
Thematisch berührt sich Heins Roman mit den – älteren – Büchern von Stefan Heym, etwa den „Architekten“, oder mit Eugen Ruges „In Zeiten des abnehmenden Lichts“. Indes hat er sein ganz eigenes, eben Hein-typisches Gepräge. Der Autor pflegt einen sehr nüchternen, lapidaren, ausgehärteten, gelegentlich fast protokollartigen Stil. Differenzierende psychologische Porträts des Personals darf man hier nicht erwarten, und der im engeren Sinn poetische Ornat ist bescheiden. Manches gerät arg holzschnittartig, es gibt auch ein paar sprachliche Flachstellen, einige Dialoge sind ungelenk und unlebendig.
Aber irgendwie ist dieser Stil auch den beschriebenen Ereignissen und ihrer dichten Folge angemessen. Wer aus dem Lebensalltag, nicht aus dem Geschichtsbuch wissen möchte, warum dieses politische System an seinen inneren Widersprüchen, an seiner ubiquitären „Uneigentlichkeit“ gleichsam ersticken musste, kommt hier voll auf seine Kosten. Ein Beispiel: Goretzkas Stieftochter Kathinka will zwar an der Filmhochschule in Babelsberg studieren, dafür aber auf keinen Fall das Vitamin B der familiären Verbindung in Anspruch nehmen. Sie erhält dann auch auf ihre Bewerbung hin eine aufschiebende Absage und parkt zunächst einmal auf einem Posten als Kranführerin in der Produktion. Das stößt ihren Eltern sauer auf, die sich für die Tochter (bzw. Stieftochter) Besseres vorstellen und ihr Unterkommen in der Arbeitswelt mit mitleidiger Verachtung strafen.
Die Retourkutsche folgt auf dem Fuß: „Ich lerne die Arbeiterklasse kennen, also die Leute, von denen du und Vater immer in den höchsten Tönen redet.“ Da erschließt sich auch denjenigen etwas von der Lebenswelt DDR, die dank Geburtsjahr und anderer Umstände selbst keine Gelegenheit hatten, sie kennenzulernen.
Christoph Hein: „Das Narrenschiff“. Roman, Suhrkamp, 751 Seiten, 28 Euro.