„Das Recht, Unfug Unfug zu nennen“Rainer Forst über Toleranz in Corona-Zeiten
Köln – Herr Forst, Verdienen Corona-Leugner und/oder Impfgegner (die Gruppen sind wohlgemerkt nicht identisch) Toleranz?Rainer Forst: Zunächst einmal verdienen diese Gruppen, besonders die erste, klare Kritik. Denn das Leugnen einer objektiv bestehenden Gefahr ist nicht nur irrational, sondern fahrlässig. Und was Impfgegner angeht, so sollte man auch hier darauf hinweisen, dass es dabei nicht nur um die eigene Gesundheit geht, sondern um die anderer, evtl. auch der eigenen Kinder. Die Toleranz gegenüber diesen Gruppen schließt solche Kritik ein, denn Toleranz üben wir ja nur den Ansichten und Praktiken gegenüber, die wir falsch finden, und das dürfen wir auch äußern. Sie haben dennoch, solange nicht die Rechte anderer verletzt werden, einen Anspruch darauf, toleriert zu werden – aus zwei Gründen. Erstens gilt auch für irrationale Positionen die Meinungs- und Rede- bzw. Demonstrationsfreiheit, und zweitens ist eine Lehre aus den vielen Kämpfen um Toleranz, dass gesellschaftlich dominante Ansichten nicht den sozial zulässigen Toleranzraum bestimmen sollten. Dieser sollte durch grundlegende Rechte bestimmt werden.
Wer auf Demonstrationen dazu auffordert, Drosten, Lauterbach, Wieler und andere angebliche „Mainstream“-Vertreter der Corona-Politik einzusperren, darf wohl als „intolerant“ bezeichnet werden. Kann er trotzdem Toleranz für sich in Anspruch nehmen? Oder muss man knallhart sagen: Wer selbst intolerant ist, hat den Anspruch auf Toleranz verwirkt?
Der Satz „keine Toleranz gegenüber der Intoleranz“ ist in dieser Allgemeinheit zu undifferenziert. Denn man muss genauer sagen, welche Intoleranz nicht tolerierbar ist, und aus welchen Gründen. Wer die Genannten kritisiert, darf das, aber wer sich anmaßt, sie zu beleidigen oder gar ihnen Gewalt anzudrohen, überschreitet die Grenzen des Zulässigen. Eine Gesellschaft muss ein gewisses Maß an Intoleranz aushalten, aber dort die Grenze ziehen, wo Menschenrechte und grundlegende Formen des Respekts verletzt werden. Wer sich in der Öffentlichkeit exponiert äußert, darf nicht bedroht werden. Leider fördert die Anonymität des Netzes solche Hetze.
Das führt auf die grundsätzliche Frage: Funktioniert Toleranz nur auf der Basis strenger Reziprozität?
Die Tugend der Toleranz darf in einer demokratischen Gesellschaft allseits erwartet werden, aber die nötige Reziprozität bezieht sich auf den Respekt voreinander und auf geteilte Prinzipien, nicht auf das Ausmessen exakt gleicher Toleranzräume, die jede Gruppe für sich beansprucht. Lehrerinnen mit muslimischer Kopfbedeckung oder einen Moscheebau zu akzeptieren, ist ein Gebot der Gerechtigkeit, die wir einander wechselseitig schulden, aber sie fordert von denen, denen das zuwider ist, viel Toleranz. Das kann eine solche Person aber Minderheiten, die einen Anspruch auf solche Toleranz haben, nicht vorwerfen.
Infos zur Person
Rainer Forst, geboren 1964 in Wiesbaden, ist Professor für Politische Theorie und Philosophie am Institut für Politikwissenschaft sowie am Institut für Philosophie der Frankfurter Uni. Als Schüler von Jürgen Habermas, bei dem er 1993 mit einer Arbeit über Theorien zu politischer und sozialer Gerechtigkeit promoviert wurde, gehört er zur „dritten Generation“ der Kritischen Theorie. 2003 habilitierte sich Rainer Forst bei Axel Honneth mit seinem Buch „Toleranz im Konflikt“, das mittlerweile international als einschlägiges Standardwerk gilt. Forsts Forschungsschwerpunkte sind Grundfragen der politischen Philosophie, insbesondere die Begriffe Gerechtigkeit, Demokratie und Toleranz. Er war Sprecher des Frankfurter Exzellenzclusters „Die Herausbildung normativer Ordnungen“. (MaS)
Sprechen wir hier über ein politisches, moralisches (und damit philosophisches) oder ausschließlich juristisches Problem – dergestalt, dass halt, wer gegen Gesetze verstößt (etwa im Sinne von Volksverhetzung, Aufruf zu Straftaten, Beleidigung etc.), mit Sanktionen rechnen muss? Welches Verhältnis zueinander unterhalten Recht, Politik und Moral?
Diese Dimensionen überlagern sich hier, müssen aber auseinander gehalten werden. Grundlegend ist die moralische Dimension, denn die recht verstandene Toleranz gründet sich auf dem Recht, als Gleiche(r) geachtet zu werden, einschließlich der Identität, die man als religiöse Person etwa hat. Wir schulden einander gute, über die Religions- und Gemeinschaftsgrenzen hinweg belastbare, faire Gründe für die Ausgestaltung des gesellschaftlichen Toleranzraums. Da kommt das Recht ins Spiel, da es diesen Raum in rechtliche Normen einfasst, aber ganz wird man damit moralische Überlegungen nicht los. Denn ob es ein Recht darauf gibt, auch als Juristin das Kopftuch zu tragen, ergibt sich erst aus einer hinreichend reflektierten Überlegung, was es heißt, andere als gleichberechtigt anzuerkennen und nicht nur dann, wenn sie assimiliert sind – sofern sie ihrerseits Grundregeln des Respekts einhalten. Die Politik schließlich bildet die Sphäre, in der diese Fragen, wenn es gut geht, im Modus der öffentlichen Vernunft diskutiert werden – auch im Kampf gegen öffentliche Unvernunft.
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Sie haben mit „Toleranz im Konflikt“ ein Buch geschrieben, das den westlichen Toleranz-Diskurs in historischer wie normativer Perspektive ausleuchtet. Wie stellt sich für Sie die aktuelle Toleranz-Problematik im Licht Ihrer eigenen Arbeit dar?
Diese Geschichte schreiben wir intensiv fort. Mit allen Schatten- und Lichtseiten. Toleranz, die Goethe als „Beleidigung“ bezeichnete, weil sie gleichen Respekt ausschließe und eine obrigkeitsdefinierte Praxis sei, wird immer noch in dem von ihm zu Recht kritisierten Sinne verstanden, dass Mehrheiten festlegen, was Minderheiten dürfen; allzu oft müssen Letztere sich dann mit einem Status zweiter Klasse begnügen. Einer anderen Konzeption von Toleranz zufolge, die ich oben ansprach, gilt aber der Grundsatz der gleichen Anerkennung trotz und in Differenz – Beispiel gleichgeschlechtliche Ehe, Gleichberechtigung der Religionen etc.. Wir befinden uns weiterhin in dem Prozess der Herausbildung von Ordnungen, die, wenn es gut geht, Gleichberechtigung realisieren und dabei auch das, was Adorno „ohne Angst verschieden sein“ nannte.
In Ihrem Buch geht es ausschließlich um Religionstoleranz. Nun ist das Thema der gegenwärtigen Debatte nicht Religion, sondern das Verhalten in einer neuartigen Pandemie-Situation. Damit geht es nicht mehr um „Glauben“, sondern um „Wissen“. Inwieweit also lässt sich das Design von „Toleranz im Konflikt“ überhaupt auf die aktuelle Lage übertragen?
Eine kleine Korrektur – in meinem Buch geht es hauptsächlich um Religionstoleranz, weil das der dominante Diskurs ist; ich diskutiere aber auch kulturelle Toleranz in einem weiteren Sinne und politische Toleranz Andersdenkenden gegenüber. Die Prinzipien bleiben dieselben. Dabei lernt man, dass die Grenzen zwischen Wissen und Glauben schon immer umstritten waren, und dass einst die „Ketzer“ genannt wurden, die gegen dominante Formen dessen, was als wahr galt, aufbegehrten. Das machen sich sogenannte Querdenker ja auch zunutze, indem sie sich selbst als die eigentlich kritischen Geister darstellen und dabei die Wahrheit verkehren. Der Raum gesellschaftlicher Toleranz ist mit Redeverboten zurückhaltend, aber das schließt das Recht ein, Unfug Unfug zu nennen und Verrücktheiten zurückzuweisen. Das Recht der freien Rede besteht auf beiden Seiten, und die Wahrheit muss geachtet werden – nicht zuletzt deshalb, weil die Falschheit Leben gefährdet. Die Wahrheit muss sich aber durch Einsicht durchsetzen, nicht durch das Stummschalten von Kritik.
Noch einmal zum Thema „Glauben und Wissen“. In Glaubensdingen und -fragen kann es – das schrieb bereits der von Ihnen wiederentdeckte französische Aufklärungsphilosoph Pierre Bayle – kein „Richtig“ oder „Falsch“ geben, weil die Begrenztheit menschlicher Vernunft eine ein für allemal gültige Antwort und Auskunft nicht zulässt. Der Zwang zur Rechtgläubigkeit verkennt dies, es muss dabei bleiben, was wir heute als „vernünftige Nicht-Übereinstimmung“ bezeichnen würden. Die Corona-Diskussion hat hingegen einen anderen Charakter – es geht im letzten immer auch um die Verifizierbarkeit von Behauptungen durch Wissenschaft. Warum kommt es trotzdem zu Auseinandersetzungen, die fast an Glaubenskriege erinnern?
Hier ist es wichtig zu differenzieren: Bayle forderte von den Toleranz Übenden nicht den Verzicht auf eine religiöse Überzeugung von Wahrheit oder Falschheit; er forderte nur, dass man dann wisse, dass es eine Glaubenswahrheit sei und keine, die die Vernunft beweisen kann. Toleranz setzt keinen religiösen Skeptizismus voraus, sondern die Einsicht in die Grenzen der Vernunft in religiösen Fragen und in die Grenzen des Glaubens, wenn es um objektives Wissen geht. Solches Wissen bleibt aber umstritten, gerade dann, wenn es wie in der Pandemie dazu führt, dass sich die gesamte gesellschaftliche Ordnung umstellen muss. Das ist auch in anderen Fragen so, denken Sie an Leugner des Klimawandels. Man verschließt die Augen, weil die Wahrheit weh tut und unbequem ist. Dies sind letztlich gesellschaftliche Auseinandersetzungen, die uns noch länger beschäftigen werden.
In welchem Verhältnis stehen Toleranz und Wissenschaft bzw. Wissenschaftsverachtung zueinander? Und kann Wissenschaft ihrerseits Züge von Religion annehmen?
Die Wissenschaft als methodische Kunst, wahres Wissen zu generieren, kommt ohne Streit, Diskurs und Toleranz nicht aus. Allzu lang ist die Geschichte des Mundtotmachens von „Ketzern“ wie Galileo. In gewisser Weise ist Wissenschaft institutionalisierte Auseinandersetzung, die auch die Grundlagen des Wissens betreffen darf. Gleichwohl bleibt die Annahme einer gemeinsamen Vernunft, die sich über sich selbst methodisch aufzuklären vermag, notwendig; die Wissenschaft zerfiele, wenn sie sich in Überzeugungsinseln aufteilte, die nicht mehr miteinander um Wahrheit ringen.
Sehen Sie überhaupt mit Blick auf die unversöhnlichen Corona-Debatten dieser Tage Gründe, pessimistisch auf die Zukunft einer toleranzbasierten Gesellschaft zu schauen? Es scheinen sich ja derzeit je nachdem Verfeindungen im kommunikativen Nahbereich zu etablieren, die das Potenzial haben, auch dann anzudauern, wenn die Pandemie längst vorbei ist. Trocknet die gesellschaftliche Ressource Toleranz aus?
Ich bin da nicht ganz so skeptisch, denn wir erleben zwar viel Irrationalität, die laut ist, aber auch viel Rationalität, die zu gravierenden Konsequenzen und viel Konsens trotz des Schmerzes geführt hat, den die getroffenen Maßnahmen mit sich brachten. Und die These vom Vertrocknen von Ressourcen setzt insgeheim voraus, dass früher – so wie bei Loriot Lametta – „mehr Toleranz war“. Das dürfte eine etwas optimistische Lesart unserer Geschichte sein. Die Toleranz bewegt sich eher in Wellen vorwärts, wo Schritte vor auch wieder mit Schritten zurück beantwortet werden. Ich denke aber nicht, dass wir auf der Stelle treten, denken wir an die Akzeptanz von Homosexualität und Lebensstilen, die vor Kurzem noch mit Worten belegt wurden, die heute zu Recht als Tabu gelten. Das heißt aber alles nicht, dass uns die Ausdifferenzierung von Kommunikationsinseln Gleichgesinnter nicht besorgen muss. Das kann eine Gefahr für gesellschaftliche Kommunikation und Fortschritt werden.
Toleranz gilt im „offiziellen“ Diskurs immer noch als selbstverständliche, selbst-evidente Bürgertugend, die keiner weiteren Begründung bedarf. Darüber gerät in Vergessenheit, dass auch sie wie alle anderen Forderungen an ein moralisches Verhalten begründungspflichtig ist. Warum also soll man überhaupt tolerant sein?
Es gibt immer noch viele Missverständnisse, die mit dem Begriff Toleranz verbunden sind. Den einen gilt sie als Verzicht auf ein eigenes Urteil, was schon begrifflich falsch ist. Den anderen als Umarmung alles Fremden, was auch nichts mit dem Begriff zu tun hat, der das Akzeptieren von etwas meint, das man falsch oder schlecht findet, weil es Gründe für dieses Akzeptieren gibt, bis eine Grenze erreicht ist. Noch immer denken viele, die Toleranz sei eine Leistung, die bedingt erbracht werden muss, und dass Minderheiten, die toleriert werden, sich fügen müssen. Diesem hierarchischen Verständnis aber muss ein egalitäres gegenübergestellt werden, nachdem es die reale Frage der Gleichberechtigung ist, die Toleranz erfordert, und zwar von denen, die damit auf Privilegien verzichten müssen – sei es angesichts der unkonventionellen Berufswünsche von Töchtern oder angesichts der Kleiderordnung von Beamtinnen, die aus diesen Töchtern werden. Der Kampf für Toleranz sollte der Emanzipation dienen, nicht der Religionsfeindlichkeit oder der Repression. Ohne eine gemeinsam geteilte Moral des wechselseitigen Respekts bleibt sie eine Tugend mit Fallstricken.