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Debatte um Joanne K. RowlingHarry-Potter-Welt zu weiß, männlich und heterosexuell?

Lesezeit 4 Minuten

„Harry Potter“-Autorin Joanne K. Rowling

  1. Vor 20 Jahren brach der vierte Harry-Potter-Band alle Rekorde – die Autorin Joanne K. Rowling wurde zum Weltstar.
  2. Heute emanzipiert sich die Generation Hogwarts von ihrer Übermutter und hinterfragt die Botschaften ihrer einstigen Lieblingslektüre.
  3. Ist die Harry-Potter-Welt nicht sehr weiß, männlich und heterosexuell?

Der erste Band in J.K. Rowlings Harry-Potter-Reihe erschien in einer Auflage von 500 Stück. Als im Juli 2000 der vierte Band, „Harry Potter und der Feuerkelch“, gleichzeitig in Großbritannien und den USA veröffentlicht wird, beträgt die Startauflage mehr als fünf Millionen Exemplare, die deutsche Übersetzung folgt im Oktober mit zunächst einer Million gedruckten Büchern. Währenddessen haben in den Leavesden Film Studios außerhalb Londons die Dreharbeiten zum ersten Harry-Potter-Film begonnen.

„Der Feuerkelch“ markiert den Moment, in dem ein Jugendbucherfolg zum globalen Phänomen wird: Buchläden setzen Mitternachtsverkaufs-Events an, Kinder, als ihre Lieblingscharaktere verkleidet, stehen stundenlang an, um eines der ersten Exemplare zu ergattern und bis in die frühen Morgenstunden zu lesen.

Man könnte die Millennials, geboren zwischen Anfang der 80er und Mitte der 90er, auch als Generation Potter beschreiben. Sie sind in der von J.K. Rowling entworfenen Zauberwelt aufgewachsen, die sieben Bände, in denen Harrys Kampf gegen den dunklen Magier Lord Voldemort geschildert wird, sind ihr Altes und Neues Testament (nur die Bibel und die Mao-Bibel verkauften sich besser). Unter den vier Häusern Hogwarts haben sie ihre Werte und Weltanschauung gefunden.

Doch die Generation Potter ist erwachsen geworden und erlebt gerade einen schmerzhaften Abnabelungsprozess von Rowlings Milliarden Dollar schwerer „Wizarding World“, in die sie einst so viel investiert hatte. Rowlings Werte sind nicht mehr die Werte ihrer geistigen Kinder, vielleicht waren sie es nie. Sie mögen mit Rowling lesen gelernt haben, das Denken hat ihnen die US-Philosophin Judith Butler („Das Unbehagen der Geschlechter“) beigebracht.

Erste Risse zeigten sich, als Rowling kurz nach Erscheinen des finalen Bandes erklärte, Albus Dumbledore, der weise Direktor der Hogwarts-Schule, sei schwul. Mit dem Fakt als solchem hatte niemand Probleme. Aber die späte Erläuterung warf die Frage auf, warum die Autorin dies auf keiner von mehr als 3400 Seiten erwähnt.

Weitere nachgereichte Informationen trugen nur dazu bei, den Blick ihrer Fans dafür zu schärfen, wie wenig inklusiv die Harry-Potter-Bände wirklich sind. Ähnlich dem „Star Wars“-Schöpfer George Lucas konnte Rowling nicht damit aufhören, an ihrem abgeschlossenen Werk herumzutüfteln: Ein sicherer Weg, seinen gottgleichen Status herabzumindern.

Das waren kleine Ärgernisse im Vergleich zu dem Beben, das seit einem halben Jahr die Potter-Welt erschüttert. Angefangen mit einem Tweet, in dem Rowling sich solidarisch mit einer Frau erklärte, die nach abfälligen Bemerkungen über Trans-Frauen ihren Job verloren hatte. Eine Trans-Frau sei keine echte Frau, hatte sie gesagt, es sei unmöglich, sein Geschlecht zu wechseln.

Viele Fans irritierte, dass sie nicht aus den Büchern, sondern erst hinterher erfuhren, dass Dumbledore schwul sei.

Das erinnert an die bigotte Aussage der Voldemort-Anhänger, nach der Muggelstämmige – also von Menschen ohne magische Fähigkeiten Geborene – keine echten Zauberer sein können. Eine Analogie, die Rowling nicht zog, sich stattdessen aber in einen regelrechten Kreuzzug gegen Trans-Frauen verrannte. „Wenn Geschlecht nicht real ist, dann löscht das die gelebte Wirklichkeit von Frauen auf der ganzen Welt aus“, tweetete die Autorin im Juni. Diese Woche verglich sie Transgender-Sein mit einer Geisteskrankheit und die Hormontherapien, denen sich viele Transpersonen unterziehen, mit den sogenannten Konversionstherapien gegen Homosexualität.

Harry-Potter-Darsteller Daniel Radcliffe, Emma Watson (die Hermine Granger der Filme) und Eddie Redmayne, der in der von Rowling verfassten „Fantastische Tierwesen“-Filmreihe die Hauptrolle spielt, haben sich öffentlich von der Autorin distanziert. Noch bemerkenswerter ist die Radikalität, mit der die beiden größten Potter-Fandomänen, „The Leaky Cauldron“ und „MuggleNet“, J.K. Rowling für tabu erklärt und von ihren Seiten verbannt haben. Weder werde man länger auf Rowlings Internetpräsenz verlinken noch von ihren weiteren Unternehmungen berichten. Twitterbeiträge, die sie betreffende Nachrichten enthalten, werden in Zukunft mit dem Hashtag #JKR versehen, so dass sie leicht herauszufiltern sind. Zudem entfernten die Seiten alle Fotografien der Autorin.

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Ein Schelm, wer da nicht an den muggelphoben Bösewicht Lord Voldemort denkt, der von verängstigten Zauberern zumeist nur als „Du-weißt-schon-wer“ oder „Der, dessen Name nicht genannt werden darf“ bezeichnet wird. Anscheinend hat sich J.K. Rowling in den Augen vieler Fans in Harry Potters Nemesis verwandelt.

Die Autorin sieht sich selbst als linksliberale Feministin, spendet freigebig für soziale Zwecke und zahlt so viel Steuern an den britischen Staat, dass man sie schwerlich als Heuchlerin darstellen kann. Auch besteht kein Zweifel daran, dass die Potter-Bände eine progressive und inklusive Agenda verfolgen.

20 Jahre später erscheint die wunderbare Zauberwelt allerdings auch sehr weiß, männlich und heterosexuell. „Persons of Color“ kommen nur als Nebenfiguren vor, Mädchen sind fleißig, Jungs rabaukig. Dass die Kinder von damals beim Wiederlesen moralisches Gliederreißen empfinden, ist mehr als verständlich.

Gerade hat Rowling zusammen mit 150 prominenten Kulturschaffenden einen öffentlichen Brief unterzeichnet, in dem sie sich gegen die „blindwütige moralische Gewissheit“ der „Cancel Culture“ ausspricht, gemeint ist der Boykott von in Ungnade gefallenen Personen und Werken. Selbstredend gibt es keinen Grund, „Harry Potter“ zu canceln. Nur: Ein wenig entzaubert erscheint der Zauberschüler inzwischen doch.