Dieses verfluchte VirusDas Buch zur Stunde der Corona-Krise
- Die Autorin Rebecca Makkai hat mir ihrem Roman „Die Optimisten“ unverhofft einen der Romane des Corona-Frühlings geschrieben.
- Eine Kritik.
Mit Anfang 30 sollte man seine Freunde nicht zu Grabe tragen müssen. Doch als Yale Tishman zu Beginn von Rebecca Makkais Roman „Die Optimisten“ seinen Freund Nico betrauert, da weiß er, das war erst der Anfang, es werden noch viele Abschiede folgen.
Nico ist 1985 der erste Aids-Tote im Freundeskreis von Yale und dessen Partner Charlie, doch mit dem HI-Virus infiziert haben sich bereits viele im Chicagoer Schwulenviertel „Boystown“. Und vielleicht ist es sogar falsch, Nico zu bedauern, weil er als erster gehen musste. Vielleicht hatte er Glück, musste er doch nicht mitansehen, welches Schicksal ihm bevorstand.
Es sind vor allem junge Männer, die diese Krankheit dahin rafft. Männer, die häufig lange kämpfen mussten, um so leben zu können, wie sie es möchten, die sich nicht mehr verstecken wollen. Yale fühlt sich sicher, lebt er doch mit Charlie seit Jahren in einer monogamen Beziehung. Doch die Einschläge kommen immer näher. „Was mich mitnimmt ist, dass ich einunddreißig bin und meine Freunde einer nach dem anderen krepieren“, wirft er irgendwann einer Bekannten an den Kopf. Jedes Mal, wenn jemand sagt „Hast du schon das von...gehört?“ ist da die Panik, dass es den nächsten getroffen haben könnte. Sie fühlen sich wie Todgeweihte. „Sie waren menschliche Dominosteine.“ Wie soll man da tun, was man eben tut, wenn man jung ist: Freundschaften knüpfen, sich verlieben, Menschen in sein Herz lassen? Wissen sie doch alle, dass es darauf ankommt, „die Reste seines Herzens zu schützen, die bei jeder Trennung, jedem Scheitern, jeder weiteren Beerdigung, jedem Tag auf der Erde in immer kleinere Fetzen gerissen wurden“.
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Es ist ein merkwürdiger Zufall, dass „Die Optimisten“ in diesem Frühjahr erscheint, das in unseren Köpfen für immer mit der Corona-Krise verknüpft sein wird. Natürlich gibt es viele Unterschiede zwischen einer HIV-Infektion und einer Aids-Erkrankung und dem Corona-Virus. Und doch erscheint beim Lesen dieser Geschichte vieles erschreckend gegenwärtig. Die Angst vor einem unbekannten Feind, einem Virus, das man noch gar nicht richtig kennt. Das verzweifelte Hoffen auf ein Heilmittel. Die Ohnmacht, das Vermeiden von Nähe und Berührungen, das Aufkommen von Verschwörungstheorien und Schuldzuweisungen.
Zur Person
Rebecca Makkai lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Chicago. „Die Optimisten“ ist ihr dritter Roman und war ihr großer Durchbruch. Er wurde ein New-York-Times-Bestseller und schaffte es darüber hinaus sowohl auf die Shortlist des Pulitzer Prize als auch des National Book Award. Außerdem wurde er mit dem Los Angeles Times Book Prize for Fiction ausgezeichnet und zu einem der New York Times Best Books 2018 gewählt. Gerade wird das Buch als TV-Serie umgesetzt.
Der schwedische Schriftsteller und Komiker Jonas Gardell veröffentlichte 2012 eine faszinierende Romantrilogie, die von der Stockholmer Schwulenszene in den 80er Jahren erzählt.Von ebenso jungen Männern wie in „Die Optimisten“, die dachten, sie hätten das ganze Leben noch vor sich. „Trockne Tränen niemals ohne Handschuhe“, heißt die Reihe, die bisher leider nicht ins Deutsche übersetzt wurde. Es ist der Rat einer Krankenschwester an ihre Kollegin und ein Titel, der perfekt ausdrückt, was auch Yale und seine Freunde erleben und erleiden müssen. Ein überfordertes Gesundheitssystem, das keine angemessene Betreuung bietet, Kranke wie Aussätzige behandelt, sie mit ihren Ängsten allein lässt. Und eine überforderte Gesellschaft, die das Virus am liebsten totschweigen möchte, die den Erkrankten mal mehr, mal weniger direkt die Schuld gibt für ihre Infektion mit dieser „Schwulen-Seuche“.
Doch Aids zerstört nicht nur die Leben derjenigen, die erkranken, die Verwüstungen ziehen viel weitere Kreise. Fiona ist Nicos Schwester und sein Tod nimmt ihr nicht nur den Bruder, sondern auch die Familie. Weigern sich die Eltern doch, zuzugeben, dass ihr Sohn schwul war und woran er starb. Fiona kann ihnen das nicht verzeihen, und so wird Nicos Freundeskreis ihre Familie, eine Familie, in der sie einen nach dem anderen zu Grabe tragen muss – und darüber fast ihr eigenes Leben vergisst. Noch kurz vor der Geburt ihrer Tochter Claire wacht sie am Bett eines Sterbenden. Fast scheint es, als habe sie über die Toten die Lebenden vergessen. „Manchmal fühlte sie sich wie ein grausamer Hindu-Gott, unter dessen Berührung alles zu Asche wurde.“ Das Verhältnis zu Claire ist zeitlebens angespannt, sie entfremden sich zusehends. Irgendwann schließt sich Claire einer Sekte an, bricht den Kontakt ab, geht nach Paris.
Dort spielt der zweite Handlungsstrang. 2015 macht sich Fiona in die französische Hauptstadt auf, um ihre Tochter zu suchen. Sie wohnt bei dem berühmten Fotografen Richard Campo, einem Freund aus Chicago. Er ist einer der wenigen Überlebenden aus dem damaligen Freundeskreis. Für Fiona ist diese Reise, diese Suche nach der verlorenen Tochter, auch eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, mit den eigenen Schuldgefühlen und der Schuld, die man anderen gibt. „Aber wenn man aufhört, Menschen die Schuld zu geben, und alles trotzdem schrecklich ist, kann man nur noch der Welt die Schuld geben. Und wenn man der ganzen Welt die Schuld gibt, wenn anscheinend der Planet selbst einen hier nicht haben will, und Gott, falls es ihn denn gibt, einen hasst – dann ist das noch schlimmer, als sich selbst zu hassen. Wirklich“, sagt sie irgendwann zu ihrer Therapeutin.
Während Fiona in Paris nach Claire sucht, ereignen sich die Terroranschläge vom November 2015. Es scheint, als könne sie dem Leid nicht entfliehen. Doch Paris spielt in „Die Optimisten“ noch eine andere wichtige Rolle. Fionas Großtante Nora ist Mitte der 80er eine alte Frau. Als junge Studentin zog es sie einst nach Frankreich, dort lernte sie berühmte Künstler kennen, wurde etwa von Amedeo Modigliani gemalt. Ihre Sammlung bedeutender Kunstschätze aus jenen Jahren will sie nun einer Galerie übergeben. Jener Galerie, für die Yale arbeitet. In Gesprächen mit der alten Dame erfährt Yale, was ihr eigentliches Anliegen ist: Ihrem jung verstorbenen Geliebten, dessen Werk in Vergessenheit geriet, zu Aufmerksamkeit zu verhelfen.
Kein Frieden mit der Vergangenheit
Wie Fiona ihre Freunde an Aids verlor, verlor Nora sie an den Ersten Weltkrieg. Und auch sie kann mit der Vergangenheit keinen Frieden schließen. „Aber wenn jemand tot ist und niemand außer einem selbst sein Andenken bewahrt, dann wäre es doch Mord, ihn loszulassen, oder?“ Für Yale sind die Parallelen zu Fionas Leben offensichtlich: „Dies ist ein Krieg, wirklich. Du bist seit sieben Jahren im Schützengraben. Und niemand wird das verstehen. Niemand wird dir dafür ein Purple Heart verleihen.“
„Die Optimisten“ ruft uns auch ins Gedächtnis, wie egozentrisch unser Blick auf Aids ist. Knapp 38 Millionen Menschen sind zurzeit weltweit mit dem HI-Virus infiziert. Die Aids-Pandemie hat nach Schätzungen der UN bisher etwa 32 Millionen Leben gefordert. Doch weil man bei uns aufgrund der verbesserten Therapien auch mit einer HIV-Infektion alt werden kann, interessieren wir uns nicht mehr besonders für die Krankheit. Dass sie noch immer die Leben von Millionen Menschen weltweit bedroht, blenden wir aus.
Roman mit enormer Sogkraft
Rebecca Makkai ist ein großartiger Roman gelungen, der eine enorme Sogkraft entwickelt. Mühelos führt sie durch die Geschichte, die 30 Jahre umspannt, ohne sich zu verheddern. Dabei ist ihr akribisch recherchierter Wälzer ein echter Pageturner. Sie beobachtet klug, ihre Dialoge sind lebensnah, an vielen Stellen blitz ein feiner Humor auf. Die Geschehnisse sind zwar oft sehr oft traurig, aber sie gleitet nie in Kitsch ab. Ein Roman, der die Kraft der Freundschaft feiert, der seinen Lesern viele Abschiede zumutet, und in dem dennoch immer auch die Hoffnung mitschwingt, dass alles besser werden kann.
So wie das Virus das Leben dieser Menschen für immer verändert, so veränderte es auch unsere Welt. Rebecca Makkai hat unverhofft einen der Romane dieses Frühlings geschrieben.