Der finnische Dirigent geht mit dem Gürzenich-Orchester für fünf Jahre eine künstlerische Partnerschaft ein. Wir haben ihn vorab dazu interviewt.
Dirigent Sakari Oramo über das Gürzenich-Orchester„Ich bin begeistert, wie schön sie klingen können“
Herr Oramo, Sie nehmen von der kommenden Saison an – mit Vorlauf noch in der laufenden – für fünf Spielzeiten beim Gürzenich-Orchester eine besondere Funktion ein, genauer: Sie erarbeiten und dirigieren mindestens zwei Programme pro Saison. Üblicherweise nennt man so eine Position ja „Principal Guest Conductor“. Sie werden aber als „Artistic Partner“ bezeichnet. Gibt es da einen Unterschied?
In der Tat, den gibt es. Als Artistic Partner sehe ich meine Aufgabe noch mehr als Mitschöpfer des künstlerischen Profils – mit meinen Repertoireschwerpunkten, die sich deutlich zeigen werden. Der Gürzenich-Kapellmeister wird natürlich die entscheidende Rolle spielen – und ich steuere dazu gerne meine eigenen Ideen bei.
Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit?
Als ich im März vergangenen Jahres zum ersten Mal beim Gürzenich-Orchester gastierte, war es mir ganz deutlich, dass es zwischen uns „Klick“ machte. Ich hatte das starke Gefühl, mit diesen Leuten könne man wirklich Musik machen. Es scheint, dass das Gefühl beidseitig war, denn ich wurde von einer Gruppe Musiker direkt und sehr sympathisch angesprochen. Davon gingen die Verhandlungen dann aus, und ich bin für diese mir übertragene Aufgabe sehr dankbar.
Sie sagten tatsächlich, wie man hören kann, spontan „ja“ – obwohl Sie, Sie erwähnten es, das Orchester erst einmal dirigiert hatten. Was genau hat denn da so „eingeschlagen“, was ist am Gürzenich-Orchester aus Ihrer Sicht auch im Vergleich zu anderen Klangkörpern so toll?
Ich habe das schon früher auch so spontan gemacht. Nach meinem Debut mit dem tollen BBC Symphony Orchestra 2011 hat man mich sofort gefragt, ob ich dem wunderbaren Jiři Belohlavek als Chefdirigent von 2013 an folgen möchte. Mir war sofort klar: So einen Vorschlag lehnt man nicht ab. Nach elf Jahren bin ich immer noch da – und sehr glücklich. Beim Gürzenich-Orchester war ich begeistert, wie schön sie klingen können, wie inspirierend die Probenarbeit ist und wie wunderbar reibungslos sie auf die Art und Weise meines Musikmachens reagieren. So etwas kommt nicht sehr oft vor.
Wie waren denn bislang Ihre Erfahrungen mit Orchestern im deutschsprachigen Raum? Gibt es da Unterschiede, oder klingen die in skandinavischen Ohren alle gleich?
Ich arbeite regelmäßig mit den Berliner Philharmonikern und mit dem NDR Elbphilharmonie Orchester und habe auch zum Beispiel beim Gewandhausorchester, bei der Staatskapelle Dresden und beim DSO Berlin öfters gastiert. Alle sind tolle Orchester, mit der großen deutschen Tradition zutiefst verbunden, aber auch sehr lebendig in unserer Zeit unterwegs. Die Klangkultur ist ziemlich anders als beim BBC zum Beispiel, aber ich empfinde diese Unterscheide als Reichtum. Nordische Orchester sind im Klang näher an den deutschen Kollegen als die Londoner.
Die aktuelle Musikproduktion Finnlands ist respektheischend – was genau zeichnet sie aus?
Neben den großen Namen wie der leider im letzten Jahr verstorbenen Kaija Saariaho oder Magnus Lindberg gibt es eine ganze Reihe von sehr eigenständigen Komponisten und Komponistinnen in allen Generationen: Jukka Tiensuu, Heinz-Juhani Hoffmann, Sebastian Fagerlund, Heta Aho, Cecilia Damström, Joel Järventausta, Outi Tarkiainen, Seppo Pohjola und viele mehr. Eine Vielfalt, wo alle sehr individuelle Stimmen haben, aber auch wirklich solide Kenntnisse. In Finnland gibt es ein großes Publikum für neugeschriebene Musik, in den Programmen des alltäglichen Konzertlebens wird sie sehr oft mit bekannten Klassikern zusammen präsentiert – und das finde ich toll.
Woher kommt es eigentlich, dass ein so dünn besiedeltes Land wie Finnland diesen gigantischen Output an herausragenden Komponisten, Dirigenten, Solisten hat?
In Finnland wurde etwas sehr richtig gemacht im Rahmen der Musikerziehung. Es ist ein System entstanden, das begabte junge Leute fördert und ihnen hilft, ihre eigene Persönlichkeit zu finden, ohne dass sie dabei überlastet würden. Ich finde das sehr wichtig – weniger theoretisch als vielmehr praktisch, aber auch philosophisch –, jedem seinen eigenen Werkzeugkasten zur Verfügung zu stellen. Leider stehen auch bei uns die Kultur und das Hochschulsystem unter großem finanziellem Druck, den die gegenwärtige Regierung ausübt.
Sie kommen, wie viele Zunftgenossen in Ihrem Heimatland, aus der Schule des legendären Jorma Panula. Zwei herausragende Dirigenten, die jüngst in Köln aktiv waren – Jukka-Pekka Saraste und François-Xavier Roth –, sind ebenfalls Panula-Schüler. Was kann, konnte man bei Panula lernen, was macht das besondere Charisma dieses Dirigentenmachers aus?
Jorma Panula, inzwischen schon 93 Jahre jung, aber noch sehr aktiv, hat über Jahrzehnte Dirigenten ausgebildet. Sein Unterricht ist sehr praktisch: Du stehst vor dem Orchester und machst Musik, er zeigt, wie man es noch besser und deutlicher machen kann. Die Schüler und Schülerinnen müssen schon etwas Eigenes über die Musik zu sagen haben, und dafür gibt ihnen Panula die Werkzeuge. Alle, die bei ihm studiert haben, sehen ganz unterschiedlich aus, haben aber eine gewisse Art zu dirigieren: nicht viel reden, alles mit den Händen zeigen, die Partitur respektieren.
In Köln werden Sie unweigerlich auch mit der fortwirkenden deutsch-romantischen Tradition konfrontiert, werden ja auch Mahlers fünfte Sinfonie, die hier uraufgeführt wurde, dirigieren. Sie sind mit besagter Tradition gut vertraut, ich erinnere mich zum Beispiel an Ihre klangprächtige, zugleich aber agile, schlank-differenzierte Aufnahme der Schumann-Sinfonien mit Ihrem damaligen Orchester, dem Royal Stockholm Philharmonic. Trotzdem: ist Köln für Sie in diesem Sinn auch eine Herausforderung?
Die deutsch-romantische Tradition ist meinem Musikerherzen sehr nah. Aber zu Ihrer Frage: Alle Musik ist eine Herausforderung! Die Tradition muss man kennen, um sie weiterentwickeln zu können. Für mich ist die „echte deutsche Tradition“ übrigens nicht Karajan. Sie wird viel eher durch Felix Weingartner, Willem Mengelberg, Clemens Krauss, Oskar Fried und vielleicht, unter den späteren, Rudolf Kempe repräsentiert. Ich liebe alte kratzende Aufnahmen! Einige dieser Leute hatten ja furchtbare politische Meinungen, aber sie haben alle in ihrer eigenen Zeit gelebt und große Musik gemacht. Auf die Stockholmer Schumann-Aufnahmen bin ich übrigens noch heute sehr stolz.
Platt gefragt: Worin genau besteht eigentlich der Unterschied zwischen Sibelius, dem sinfonischen „Nationalheiligen“ Finnlands, und Mahler?
In Mahlers Musik ist der Mensch immer im Mittelpunkt. Sein Leiden, seine Qual und ab und zu mal auch die Freude. Es steckt hinter der Ecke immer etwas, das den Menschen zerstören könnte. Bei Sibelius ist es anders: Der Mensch ist sehr oft überhaupt nicht da – oder ist tiefst einsam, ein Beobachter. Die frühe Chorsymphonie „Kullervo“ ist Mahlers Ästhetik am nächsten, und bei den „Lemminkäinen Legenden“ kann man den Einfluss Wagners spüren. Von der vierten Symphonie von 1912 an wird die Musik von Sibelius immer abstrakter.
Wie zu hören ist, konnten Sie im vergangenen Jahr bereits ein wenig in die Kölner Lebenswelt, auch in den Karneval, eintauchen. All das muss für Sie ja eine anthropologisch bedeutsame Erfahrung sein. Freuen Sie sich auf eine Wiederholung?
Anthropologisch bedeutsam – freilich. Ich freue mich darauf sehr. Köln ist eine Stadt mit viel Leben, viel Freude und Gefühl von Zugehörigkeit. Eine tolle Stadt!
Sakari Oramo, 1965 in Helsinki geboren, ist seit 2013 Chefdirigent des BBC Symphony Orchestra in London. Er zählt zu den bedeutendsten finnischen Dirigenten der Gegenwart. Das Kölner Gürzenich-Orchester hat soeben mit ihm eine Zusammenarbeit über fünf Spielzeiten von der kommenden Saison an vereinbart. In der Saison 2024/25 dirigiert er – zum Auftakt – das Ensemble schon mal in folgenden drei Konzerten:
„Ins Weite“ (11./12. Januar): Jean Sibelius: En saga op. 9 – Tondichtung für Orchester, Kaija Saariaho: Saarikoski-laulut (Saarikoski Songs), Antonín Dvořák: Sinfonie Nr. 8 G-Dur op. 88, Solistin: Anu Komsi, Sopran
„Ein und Alles“ (5. Abo-Konzert, 2./3./4. Februar): Robert Schumann: Konzert für Klavier und Orchester a-Moll op. 54, Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 5 cis-Moll, Solist: Mao Fujita, Klavier
„Magisch“ (8./9. März): Maurice Ravel: Valses nobles et sentimentales, Anders Hillborg: Klavierkonzert Nr. 2 („The MAX Concerto”), Hector Berlioz: Symphonie fantastique op. 14, Solist: Emanuel Ax, Klavier
Oramo leitet auch eine Japan-Tournee des Gürzenich-Orchesters (9. bis 16. Februar) mit 7 Konzerten. (MaS)