- Anmerkung der Redaktion: Es handelt sich hierbei um einen aktualisierten Artikel aus unserem Archiv.
Köln – Es geht wieder los. Und es gibt kein Entkommen. Ab dem 11. Januar werden Sie kaum eine Internetseite aufrufen können, ohne dass Ihnen ein mit Kakerlaken übergossener D-Promi entgegenlächeln wird.
RTL startet die inzwischen dreizehnte Staffel von „Ich bin ein Star – Holt mich hier raus!“, und für zwei Wochen wird Deutschland über das Verhalten von Menschen diskutieren, deren Namen die meisten vorher noch nicht einmal kannten.
Abend für Abend werden die einen einschalten, weil sie sehen wollen, wie ein vermeintlicher Star durch schlammige Tunnel kriecht und Sterne sammelt, über die Mit-Camper lästert oder sich mit anderen über die letzte Portion Reis und Bohnen streitet.
Andere legen Wert darauf, lediglich an dem großen Sozialexperiment interessiert zu sein, das „Ich bin ein Star – Holt mich hier raus!“ für sie ist. Und manche machen auch einfach zwei Wochen lang einen großen Bogen um ihren Fernseher. Es gibt eben viele gute Gründe, das „Dschungelcamp“ anzuschauen, und viele gute Gründe, es zu meiden.
Jeder hat eine Meinung zu der Show
Doch eins gilt für alle: Man kann sich der Show nicht entziehen. Man kann sie unterhaltsam oder verwerflich finden, amüsant oder menschenverachtend.
Man kann Sozialstudien betreiben oder seinen eigenen Minderwertigkeitskomplex dadurch bekämpfen, dass man sich einem erfolglosen Ex-Irgendwas überlegen fühlt, der freiwillig Emu-Blut schluckt. Doch selbst wer nicht eine einzige Minute gesehen hat, redet mit, hat eine Meinung.
Es ist wie bei einem Verkehrsunfall: Auch wer nicht anhält, wer vorbeifährt, nimmt ihn wahr. Das „Dschungelcamp“ ist deshalb der Traum eines jeden Programmverantwortlichen, denn es lässt niemanden kalt.
Die Zeit der Aufregung ist längst vorbei
Das ist umso erstaunlicher, da die Zeit, in der das Format zum großen Aufreger taugte, längst vorbei ist. Trash-Fernsehen hat uns von Scripted-Reality-Formaten mit Laiendarstellern am Nachmittag bis zu Promi Big Brother über die Jahre in so viele Abgründe blicken lassen, dass uns eigentlich nichts mehr schrecken oder wirklich überraschen kann.
Den Iiih-Baah-Stempel hat „Ich bin ein Star – holt mich hier raus!“ spätestens verloren, als es zu einer Nominierung für den renommierten Grimme-Preis reichte. Vielleicht sind es also gar nicht die Ekelprüfungen, die so viele vor den Fernseher ziehen.
Vielleicht ist es die Tatsache, dass das „Dschungelcamp“ trotz aller Inszenierung ehrlicher ist als vieles, was man im deutschen Fernsehen zu Gesicht bekommt. Jeder weiß, dass die Kandidaten mitmachen, weil sie sich durch die Aufmerksamkeit einen Schub für die Karriere und Geld erhoffen.
Ein Rollenspiel – wie im richtigen Leben
Natürlich spielt jeder nur eine Rolle. Aber tun wir das im wahren Leben nicht auch? Wollen wir unsere Mitmenschen nicht auch glauben lassen, wir seien viel selbstbewusster, gebildeter oder lustiger, als wir es in Wahrheit sind?
Wer zwei Wochen auf engstem Raum ohne Uhr, Zeitung, Radio, Smartphone, Fernsehen, Internetanschluss oder jegliche andere Ablenkung mit Wildfremden aufeinanderhockt, der lässt irgendwann die Maske fallen.
Wer das „Dschungelcamp“ guckt, kann viel über menschliches Zusammenleben lernen. Früher wurde in wissenschaftlichen Experimenten untersucht, wie sich Menschen in Extremsituationen verhalten, heute gibt es den Dschungel.
Das klassische Fernsehen lebt doch noch
In Zeiten, in denen viele schon das Ende des linearen Fernsehens anbrechen sehen – obwohl die durchschnittliche tägliche Sehdauer mit rund vier Stunden konstant hoch ist –, in denen Mediatheken, Youtube und Streaming-Dienste wie Netflix und Amazon Prime ermöglichen, zu jeder Zeit und an fast jedem Ort das Wunschprogramm zu schauen, ist das „Dschungelcamp“ der Beweis, dass klassisches Fernsehen noch lange nicht tot ist – wenn es bestimmte Bedingungen erfüllt.
Abgesehen von der Übertragung von Spielen der deutschen Fußball-Nationalmannschaft bei großen Turnieren und dem „Tatort“, dessen sogar den Verantwortlichen fast unerklärlicher Erfolg vermutlich vor allem darauf basiert, dass er zu einem deutschen Ritual geworden ist, ist Fernsehen in unserer digitalisierten Welt immer dann am erfolgreichsten, wenn es live ist, wenn kein Drehbuch bis ins Letzte vorausplanen kann, was passiert, wenn es sich einen Rest Unberechenbarkeit bewahrt.
Schauen in dem Moment, in dem es passiert
Wenn es demnach nicht egal ist, ob man etwas erst Stunden oder Tage später, sondern in dem Moment schaut, in dem es tatsächlich passiert.
Das wird vor allem noch dadurch verstärkt, dass es heutzutage so gut wie unmöglich ist, von sich selbst fernzuhalten, was man verpasst hat. Ein Blick aufs Smartphone, in die Facebook- oder Twitter-Timeline genügt und alles, was spannend war, ist bekannt.
Die Zeitfresser Soziale Netzwerke, die dem alten Medium Fernsehen sonst im Kampf um die Aufmerksamkeit der Nutzer oft den Rang ablaufen, verhelfen dem Live-Fernsehen sogar zu neuer Blüte.
Das Internet ist nicht nur Bedrohung
Denn immer dann, wenn Fernsehen das Internet nicht als Bedrohung, sondern als Chance begreift, ist Erstaunliches möglich. Früher saß man allein auf der Couch im heimischen Wohnzimmer und schaute „Einer wird gewinnen“ oder „Am laufenden Band“. Man wusste zwar, dass viele andere gerade dasselbe taten, doch in Kontakt treten konnte man nicht.
Heute ist es dank Twitter und Co möglich, mit Tausenden anderen über das zu diskutieren, was man gerade sieht. Und es sind ja oft gerade die lustigen oder klugen Einschätzungen der anderen, die den Reiz ausmachen.
Grosse Strahlkraft bei einem Event
Wenn Fernsehen zum Event wird, dann hat es immer noch eine Strahlkraft, die sonst kein Medium erreicht. Daran hat sich nichts geändert. Das Jetzt ist wichtiger denn je. Der Einzelne wird Teil einer großen virtuellen Gemeinschaft.
In diesen Momenten lodert das viel beschworene Lagerfeuer Fernsehen wieder so hell wie einst. Dann hat es immer noch – oder vielleicht auch jetzt erst recht – die Kraft, zum überall diskutierten Massenphänomen zu werden. Egal, wie viele Fans und Abonnenten sie haben, das schafft kein Youtube-Star. Die kommenden zwei Wochen werden das beweisen.
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