„Ein unvorstellbarer Skandal“Philosoph Markus Gabriel greift Mai Thi Nguyen-Kim an
- Zum Auftakt der phil.Cologne sprachen Philosoph Markus Gabriel und Virologe Hendrik Streeck über die Corona-Pandemie.
- Virologen müssten im Moment jedes Wort auf die Goldwaage legen, so Streeck: „Philosophen können sagen, was sie wollen.“
- Es sei ein Fehler, die Beantwortung der Frage, was wir nun tun sollen, allein den Virologen zu überlassen, so Gabriel.
- Der Philosoph kritisierte die Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim heftig für ihr Virologen-Ranking, das sie auf Youtube veröffentlichte.
Köln – Die erste Mail, die der Philosophie-Professor Markus Gabriel zu Beginn der Corona-Pandemie an seinen Kollegen an der Bonner Universität, den Virologen Hendrik Streeck schickte, ignorierte dieser. Zu viele Anfragen.
Doch nach einer zweiten Mail kam es zu einem regen Austausch der Wissenschaftler. Mittlerweile sind sie per Du und sprachen am Sonntagabend in den Balloni-Hallen zur Eröffnung der phil.Cologne mit Jürgen Wiebicke über das Virus und die Folgen der Pandemie für unsere Gesellschaft.
„Philosophen dürfen alles sagen“
Streeck scheint in der öffentlichen Debatte fast ein wenig neidisch auf den Philosophen Gabriel zu sein: „Wir Virologen müssen extrem aufpassen, was wir sagen. Da wird jedes Wort auf die Goldwaage gelegt. Philosophen können sagen, was sie wollen.“ Es sei ein Trugschluss zu glauben, Virologen müssten stets einer Meinung sein. Man könne anhand desselben Datensatzes zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen kommen.
Gabriel hingegen stört sich daran, dass seiner Zunft immer nur zugetraut werde, vom Rand reinzurufen. Es gebe eine große Lücke zwischen naturwissenschaftlichen Tatsachen über das Virus und ihrer sozialen Interpretation. Es sei daher ein Fehler, die Beantwortung der Frage, was wir nun tun sollen, allein den Virologen zu überlassen. Ohne andere Disziplinen sei es nicht möglich, diese Lücke zu verringern.
Verwunderung über selektive Wahrnehmung
Er zeigte Verwunderung über unsere selektive Wahrnehmung. Wir steckten in vielen, auch sehr viel gefährlicheren Pandemien, etwa der HIV-Pandemie. Er stelle mal eine wilde These auf, die er nicht als Kritik an der Maske verstanden wissen wolle: Die Maske als Sozialkondom. Es gebe viele gute Gründe für eine Maskenpflicht, dennoch sei noch niemand auf die Idee gekommen, eine Kondompflicht einzuführen, um die HIV-Pandemie einzudämmen.
Da stelle sich die Frage: Warum betrachten wir dieses eine Virus auf diese besondere Weise? Das sei nicht durch die Präsenz des Virus selbst zu erklären. Und darüber gelte es mit vielen wissenschaftlichen Disziplinen zu sprechen.
Wie soll der Strategiewechsel aussehen?
Von Wiebicke auf seinen am Wochenende geforderten Strategiewechsel im Umgang mit der Pandemie angesprochen, sagte Streeck, am Anfang sei die Reaktion der Politik gut und folgerichtig gewesen, weil es eine nicht einschätzbare Gefahr gegeben habe. Nun sei zu sehen, dass zwar die Infektionszahlen signifikant ansteigen, die Todeszahlen jedoch kaum. Den Fokus nur auf die Infektionszahlen zu richten, sei daher falsch.
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Wir befänden uns in einer heftigen Wissens- und Wahrheitskrise, so Markus Gabriel. Die habe es schon vorher gegeben, doch diese sei nun auf das Virus getroffen. „Die sozialen Netzwerke sind eine unterschätzte Gefahr in dieser Pandemie“, sagte der Philosoph. „Allein was die Virologen auf Twitter ertragen müssen, spricht dagegen, dass ein solches Netzwerk weiterhin existieren sollte.“
Erst habe es eine absurde Überhöhung der Virologen gegeben und als diese dann enttäuscht worden sei, sei es zum Angriff auf die Wissenschaftler gekommen. Er halte es für einen unvorstellbaren Skandal, dass Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim auf Youtube virologische Expertise an Figuren festgemacht werde.
Die promovierte Chemikerin hatte in einem Video ihres Kanals MaiLab ein Virologen-Ranking aufgestellt. Das sei ein großer Angriff auf die Demokratie. „Das geht nicht in einer solchen kritischen Situation, weil da die Expertise in Frage gestellt wird“, so Gabriel. „Wir haben gesellschaftlich noch nicht die richtige Einstellung dazu, wie wir mit Wissenschaft und Expertise umgehen.“ Man brauche Ethik und Philosophie und Wissenschaftstheorie als Unterrichtsstoff an den Schulen.
Angst vor der eigenen Sterblichkeit
Beide waren sich einig, dass es falsch sei, zu glauben, Deutschland könne die Pandemie allein bezwingen. „Wir spielen Corona-Olympiade“, so Gabriel. Welches Land liegt vorn? Das sei eine bizarre Wahrnehmung von Gesundheitspolitik. Auch Grenzschließungen seien fatal. Für den Philosophen ist unsere Furcht vor dem Virus auch Folge der Verdrängung der eigenen Sterblichkeit. Deshalb sei unsere Sehnsucht so groß, es dem Virus jetzt mal so richtig zu geben.