AboAbonnieren

„Aber kein Baum!“Elke Heidenreichs berührende Erinnerung an das Weihnachten ihrer Kindheit

Lesezeit 5 Minuten
PRODUKTION - 09.01.2023, Nordrhein-Westfalen, Köln: Die Schriftstellerin Elke Heidenreich sitzt im Raum Amadeus in der Wolkenburg in Köln. Die Schriftstellerin feiert am 15.02.2023 ihren 80. Geburtstag. (zu dpa: ««War alles schön» - Elke Heidenreich wird 80») Foto: Henning Kaiser/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Die Schriftstellerin Elke Heidenreich erinnert sich für uns an das Weihnachten ihrer Kindheit.

„Wo war er denn im Krieg, der Herr Jesus?“: Die Mutter von Elke Heidenreich hielt nicht viel von Weihnachten. Doch ein Fest blieb der Schriftstellerin doch in Erinnerung. Ihre besondere Weihnachtsgeschichte.

Als ich ein Kind war, kroch schon ab November die Angst vor Weihnachten in mir hoch.

„Sonst noch was“, sagte meine Mutter. „Ich feiere doch nicht den Geburtstag von jemandem, an den ich nicht glaube“, und: „Wo war er denn im Krieg, der Herr Jesus?“

Später, als ich sehr viel älter und meine Mutter schon tot war, las ich eine Geschichte von Luise Rinser über einen kleinen Jungen im KZ, der als Bote zwischen den Baracken hin und her geschickt wurde, bis die Nazis ihn erwischten. Sie hängten ihn auf und alle mussten zusehen und weinten, und ein alter Mann rief verzweifelt: „Wo ist jetzt Gott?“ Und ein anderer zeigte auf diesen gequälten Jungen und sagte: „Dort hängt er.“

Vor Weihnachten ging ich mit meiner Mutter auf den Markt. Es war kalt, ich hatte rot gefrorene Hände und mochte meine kratzigen Handschuhe nicht anziehen. Meine Mutter kaufte Eier, Brot, Gemüse, Mandarinen, Kartoffeln, Würstchen. Bei uns gab es Weihnachten immer Kartoffelsalat mit Würstchen, also irgendein Ritual war schon da – Heiligabend, alle Jahre wieder, kam in unserer Straße zwar nicht das Christuskind auf die Erde nieder, aber doch immerhin Kartoffelsalat mit Würstchen. Auf dem Markt wurden die letzten Weihnachtsbäume verkauft, ich zupfte meine Mutter am Ärmel.

„Guck mal, da, ein ganz kleiner“, sagte ich zaghaft. Sie seufzte. „Was sollen wir damit, Baum ist Baum, ich will diesen ganzen Zirkus nicht, Lametta, Kerzen, Kugeln, das ist alles verlogen.“ Ich fand es nicht verlogen, ich sehnte mich danach, aber ich sagte lieber nichts mehr. Und dann auf einmal lenkte sie ein:

„Also gut. Aber kein Baum. Ein paar schöne Zweige.“

Ohne zu murren schleppte ich die Zweige in meinen frierenden Händen nach Hause und legte sie auf den Küchenbalkon, damit sie frisch blieben.

Noch ein Tag bis Weihnachten. Ich wollte meiner Mutter gern etwas schenken, doch sie wollte ausdrücklich kein Geschenk, bloß nicht, sagte sie, steht alles nur dumm rum, und du kriegst auch nichts, wir haben kein Geld.

07.11.2022, Köln: Langer Abend der Literatur im Studio DuMont.
Im Bild Elke Heidenreich.
.
Foto: Michael Bause

Ein Muff, Bücher und Zweige statt Baum - und zum Essen gab es in Elke Heidenreichs Kindheit Kartoffelsalat.

Aber auf dem Balkon lagen immerhin die Zweige, und auf der Straße traf ich zufällig meinen Vater, der mir einen großen Karton Marzipankartoffeln brachte und sagte: „Frohe Weihnachten!“ und: „Sie ist eben so, da kann man nichts machen.“ Dann fuhr er wieder ab zu einer seiner Geliebten.

Ich setzte mich an den Küchentisch, als meine Mutter weg war, und schrieb ein Weihnachtsgedicht für sie. Ich dichtete und malte Tannenzweige und Kerzen und klebte das Ganze auf eine Pappe und verzierte es mit einem Goldbändchen rundum. Das war mein Geschenk.

Noch einmal schlafen

Am Nachmittag des 24. Dezember kochte meine Mutter die Kartoffeln für den Kartoffelsalat. Ich saß bei ihr in der Küche, schnibbelte die Gürkchen, wir hörten Radio und sie sang mit bei schönen Arien und Liedern, aber nicht bei Weihnachtsliedern. Der Ofen bollerte, die Zweige lagen immer noch auf dem Balkon.

„So, sagte meine Mutter, „jetzt gehst du mal bei Frau Wiedemann vorbei und wünschst ihr schöne Weihnachten und bringst ihr diesen Stollen, und bleib ruhig ein bisschen bei ihr, sie ist ganz allein, und dann kommst du wieder. Und zieh die Handschuhe an.“

„Die kratzen“, sagte ich. Ich nahm den Stollen und ging los, es wurde schon dämmerig. Ich hatte nur noch sehr wenig Hoffnung auf ein einigermaßen vernünftiges Weihnachten und sah neidisch und wehmütig in anderen Wohnungen, wie der Baum geschmückt wurde oder schon brannte. Ich war elf oder zwölf Jahre alt.

Als ich zurück kam, stand in unserm sonst nie benutzten Wohnzimmer auf dem runden Tisch ein mit Silberfolie umkleideter Eimer, in dem unsere großen schönen Zweige steckten, mit reichlich Lametta, silbernen Kugeln und weißen Kerzen geschmückt, die meine Mutter jetzt vorsichtig anzündete. Unter dem Baum lagen weihnachtlich verpackte Geschenke.

Alles für mich! Ich machte mich sofort ans Auswickeln, aber dann fiel mir mein eigenes Geschenk ein. Ich holte das Gedicht, meine Mutter las es stumm, nahm mich in den Arm und sagte: „Danke. Das ist schön.“ Mehr nicht, aber das war bei ihr schon viel. Und erst danach packte ich weiter aus – es gab Bücher und: einen schwarzen Muff aus glänzendem Kaninchenfell. Ich steckte meine Hände hinein, meine Nase, ich liebte ihn sofort, ich liebe ihn immer noch, und das ist ungefähr 70 Jahre her. Ich habe in meinem Leben auf vielen Reisen und Umzügen Dinge verloren, weggeworfen, oder sie sind einfach verschwunden. Der Muff ist noch da. Er sieht nicht einmal zerrupft aus, und im Winter stecke ich noch immer meine Hände hinein und denke an meine Mutter.

Als sie tot war, ordnete ich ihre Sachen. Darunter war ein Schuhkarton mit Kinderzeichnungen und kleinen Geschichten von mir – sie, die alles wegwarf, hatte das fast achtzig Jahre lang verwahrt. Auch das Weihnachtsgedicht von damals war dabei. Es ging so:

Weihnachten ist überall,

denn da liegt das Kind im Stall.

Deshalb schenkt man sich dann was,

Weihnachten macht allen Spaß.

Doch wir glauben da nicht dran,

dass das Kind von Gott sein kann.

Deshalb feiern wir das nicht,

und es gibt kein (!) Baum mit Licht.

Macht nichts, ich bin trotzdem froh

Und die Mama ebenso. Frohe Weihnachten.

Zur Person und Geschichte

Diese Weihnachtsgeschichte ist zuerst erschienen 2016 in Elke Heidenreichs Buch „Alles kein Zufall“.