Thomas Gottschalk moderiert am Samstag zum allerletzten letzten Mal „Wetten, dass?“. Kolumnist Stephan Grünewald blickt zurück.
Ende von Gottschalks „Wetten dass...?“-Ära„Es gab Zoten und Übergriffigkeiten, die heute schier unvorstellbar sind“
Herr Grünewald, Thomas Gottschalk moderiert am Samstag zum allerletzten letzten Mal „Wetten, dass?“ Löscht er das letzte Lagerfeuer im deutschen Fernsehen?
Stephan Grunewald: Auf jeden Fall das größte. Mit „Wetten, dass?“ verband sich über Jahrzehnte die Sehnsucht nach Vergemeinschaftung. Die Erinnerungen der Menschen an die Show kreisen immer um das Gefühl einer großen Aufgehobenheit. Die Eurovisionshymne zu Beginn war für die Nation die Melodie der Einheit. Einen vergleichbaren Effekt haben wir sonst nur noch, wenn die deutsche Fußball-Nationalelf irgendwann einmal wieder in die Endrunde großer Turniere kommen sollte.
Sie sagen „Einheit“ und „Nation“. Meinen Sie das im weiteren Sinne auch politisch?
Ja, die Wetten-dass-Gemeinschaft überspannte ideologische Grenzen, aber auch Bildungs- und Klassenunterschiede. 1992 hat man kurz versucht, das einheitsstiftende Moment auch durch einen Moderator aus dem Osten, Wolfgang Lippert, sichtbar zu machen. Aber das hat aus verschiedenen Gründen nicht funktioniert. Das große „Wetten, dass?“-Symbol war die gespiegelte Couch.
Wie, gespiegelt?
Es gab die Couch zweimal: auf dem Bildschirm mit den großen und den kleinen Stars, und davor im Wohnzimmer auf der Couch saßen die Familien Klein und Groß, Jung und Alt. Neben Hollywood-Stars als Wettpaten saßen die Wettkandidatinnen und -kandidaten: Menschen wie du und ich, die aus ihrem grauen Alltag erlöst und über ihre Normalität hinausgehoben wurden.
„Wetten dass...?“ bot Unterhaltung für die ganze Familie
Die 15 Minuten Ruhm, von denen Andy Warhol sprach?
Ja, und das Wettpublikum zu Hause hatte seinen Anteil daran. Auch das ist Teil dieser Spiegelung. Die Kinder, die sonst früh ins Bett mussten, durften mit den großen Geschwistern und den Eltern auf bleiben. Das hatte auch mit dem Sendeplatz zu tun: Samstagabend, Primetime. Die Arbeitswoche war vorüber, das Samstags-Kleinklein mit Großeinkauf und Autowäsche erledigt – und dann war da Platz für etwas Großes, Glanzvolles. „Wetten, dass?“ mit seinen großen Hallen, der opulenten Deko, dem enthusiastischen Saalpublikum ließ ein Gala-Gefühl aufkommen.
Welchen Anteil daran hatte nun Thomas Gottschalk?
Mit ihm stand und fiel „Wetten, dass?“.
Obwohl man nach dem Abgang des ersten Moderators, Frank Elstner, auch dachte: Wie soll das ohne ihn nur weitergehen?
Tatsächlich war Frank Elstner ein unglaublicher Sympathieträger: graumeliert, stets korrekt, nett zu allen. Da hatte es Gottschalk anfangs schwer. Mit seiner Flapsigkeit löste er eine mittlere „Wetten, dass?“-Revolution aus. Dabei lag genau darin das Erfolgsgeheimnis. Gottschalk, jungenhaft, jovial, kumpelhaft, verstand es, die prominenten Gäste zu erden. Er holte die Stars vom Himmel. Und zugleich hob er die Wettkandidaten empor, die wiederum stellvertretend für die Sehnsucht der Zuschauer nach Aufstieg standen.
Als Kleiner einmal ganz groß rauskommen.
Es gibt in Grimms Märchen eine Entsprechung dafür: das tapfere Schneiderlein. Dieser so unkonventionelle Held schafft es, mit seinen letztlich banalen Fertigkeiten und einer ihm eigenen Gewitztheit zu Ruhm, Glanz und Ehren zu gelangen und am Ende gar König zu werden. Den Wettkandidaten bei „Wetten, dass?“ winkte immerhin die Krönung zum Wettkönig, wenn sie es mit den scheinbar unbezwingbaren Großen aufnahmen. Deswegen waren gerade die Bagger-Wetten so beliebt: Da konnten die Kandidaten zeigen, wie man Riesen bezwingt. Wie das tapfere Schneiderlein eben.
Und das galt dann auch für die Kinderwette?
Die war die Zuspitzung dieser Sehnsucht, es mit den Großen aufnehmen zu können – und zwar nicht mit Hochkultur, mit schierer Kraft oder Athletik, sondern mit dem gewitzten Dreh. Letztlich reichte das weit über die individuelle Ebene hinaus. „Wetten, dass?“ stand sinnbildlich für das Selbstverständnis Deutschlands.
Im Ernst?
Ja, sicher. Wir Deutsche sehen uns doch als Nation der Tüftler und des Tüv. Mit den Wetten, die für „Wetten, dass?“ ausgetüftelt wurden, konnten wir unseren Erfindungsreichtum beweisen – und war die Wette gewonnen, hatte sie ihre Tüv-Tauglichkeit vor einem Millionenpublikum bewiesen, bekam gleichsam die TV-Prüfplakette.
Unfall von Samuel Koch war entscheidende Zensur für „Wetten, dass...?“
Hätte man dann nach dem schweren Unfall des Kandidaten Samuel Koch 2010 nicht konsequenterweise aufhören müssen?
Das war auf jeden Fall die entscheidende Zäsur. „Wetten, dass?“ hatte damit seine Unschuld verloren. Weder das Fernseh-Format noch die Fernseh-Nation haben danach wieder zur alten Unbeschwertheit zurückgefunden. Zumal jetzt auch klar war: Nichts durfte mehr dem Zufall überlassen werden, alles musste doppelt und dreifach gesichert sein. Das ging auf Kosten jenes Überraschungsmoments, das auch zum Erfolgsrezept von „Wetten, dass?“ gehörte.
Inwiefern?
Man kann sagen, dass „Wetten, dass?“ immer wieder zur Neunormierung gesellschaftlicher Standards geführt hat. Welche Mode ist angesagt? Welche Musik ist en vogue? Was darf man sich als Showmaster herausnehmen?
Thomas Gottschalks Art wirkt aus der Zeit gefallen
Sie meinen Gottschalks Anzüglichkeiten?
Seine Sprüche, sein Umgang besonders mit den weiblichen Promis. Wenn man sich alte Sendungen noch einmal anschaut, da waren Zoten und Übergriffigkeiten dabei, die heute schier unvorstellbar sind. So was wie der Kuss wider Willen, für den der spanische Fußballfunktionär Luis Rubiales nach dem WM-Sieg der spanischen Frauen-Nationalelf zurücktreten musste, fand in Deutschland samstagabends bei „Wetten, dass?“ in jeder Sendung statt. Aber einem wie Gottschalk wurde das lange verziehen. Genau wie seine Übertretung des ehernsten aller Gesetze: des TV-Programms, wie es in der „Prisma“ oder der „Hörzu“ ausgedruckt war. Am Ende jeder Ausgabe von „Wetten, dass?“ stand doch die Frage: Wie viel hat Gottschalk diesmal überzogen?
Warum hatte Gottschalk diese Freiheit?
Weil er – sorry für das verbotene Spiel mit Namen – zugleich Gott und Schalk war. Er vereinigte diese beiden Seiten: das Erhabene, Große und das menschlich, allzu Menschliche.
Die Sehnsüchte, von denen Sie sprachen, sind nicht verschwunden. Warum funktionierte „Wetten, dass?“ trotzdem zusehends nicht mehr?
Weil das lineare Fernsehen ein Auslaufmodell ist. Die Leute sind in ihren parzellierten Streaming-Welten unterwegs und konfigurieren ihr Programm über Netflix und die sozialen Medien. Das Einheitsmoment, das zum Wesen von „Wetten, dass?“ gehörte, lässt sich somit nicht mehr herstellen. Das ist das eine. Das andere hat mit Gottschalk zu tun. In den letzten Jahren wurde an ihm deutlich: Wie alle Großen, wird auch der göttliche Schalk, der schalkhafte Gott unwiderruflich klein. Mit Michelle Hunziker an seiner Seite, einer Kombination aus Krankenschwester und Gouvernante, war das ja zeitweilig mehr betreutes Moderieren. Bezeichnend, dass Gottschalk in seiner letzten Sendung ohne sie auf die Bühne geht. Er will es nochmal wissen und zeigen, dass er es auch alleine kann.
Grünewald Gesprächsgast
Am Mittwoch, 29. November, ist Stephan Grünewald zu Gast in der Gesprächsreihe Lebensroman der Karl-Rahner-Akademie in Köln. Moderatorin des Abends ist die frühere Chefredakteurin des WDR, Helga Kirchner.
Stephan Grünewald ist Psychologe und Mitbegründer des Kölner „rheingold“-Instituts für qualitative Markt- und Medienanalysen. Bücher wie der Bestseller „Deutschland auf der Couch“, in denen er die Befindlichkeiten der Deutschen unter die Lupe nimmt, ließen ihn zum „Psychologen der Nation“ werden.
Zum Gespräch in der Karl-Rahner-Akademie bringt Grünewald „Die Kulturgeschichte der Neuzeit“ mit, das große Werk des Wiener Kulturhistorikers und Schriftstellers Egon Friedell.
Zur Anmeldung geht es hier.