Eva Weissweilers Biografie über Fluchthelferin Lisa FittkoWeit mehr als die Retterin von Walter Benjamin

Lesezeit 5 Minuten
Autorin Eva Weissweiler sitzt bei einem exlusiven Fotoshooting vor einem dunklen Hintergrund.

Autorin Eva Weissweiler, die jüngst eine Biografie zu einer Nazi-Fluchthelferin geschrieben hat.

Lisa Fittko half vielen Menschen bei der Flucht vor den Nazis. Eine neue Biografie erzählt fesselnd vom Leben der mutigen Widerstandskämpferin.

Ins kollektive kulturelle Bewusstsein eingegangen ist sie als Fluchthelferin des Philosophen Walter Benjamin. Dazu hat Lisa Fittko selbst erheblich beigetragen: Bevor sie in ihren 1985 erschienenen Erinnerungen „Mein Weg über die Pyrenäen“ dessen letztlich vergebliche Flucht vor der Gestapo aus Frankreich nach Spanien beschrieb – das (zuvor bereits auf Englisch erschienene) Kapitel „Der alte Benjamin“ weitet sich zu einer Charakterstudie aus –, war die „antifaschistische“ Widerstandskämpferin den wenigsten ein Begriff. Das änderte sich dann schlagartig, bereits ein Jahr später erhielt die seit 1948 in Chicago ansässige nunmehrige US-Bürgerin aus den Händen von Bundespräsident Weizsäcker das Bundesverdienstkreuz erster Klasse.

Neue Biografie stellt nicht nur Fittkos Wirken als Fluchthelferin in den Fokus

Dies geschah jetzt nicht mehr nur in Würdigung der Benjamin-Rettung, sondern vielmehr der Fluchtorganisation für viele Juden und Nazigegner, die nach Frankreichs militärischer Kapitulation 1940 dort wie in einer Mausefalle festsaßen, stets bedroht von Verhaftung und Auslieferung. Von ihrem späteren Ehemann Hans Fittko unterstützt und in Kooperation mit der Rettungsagentur des Amerikaners Varian Fry machte Fittko eine Route ausfindig, auf der die Flüchtlinge von Grenzbehörden unbehelligt über das Küstengebirge nach Spanien geschleust werden konnten – von Banyuls nach Port-Bou.

Über den Lebensweg Lisa Fittkos freilich war bis vor kurzem wenig bekannt. Diese Lücke schließt jetzt ein großes Stück weit die Biografie der Kölner Musikwissenschaftlerin und Germanistin Eva Weissweiler, die seit ihrer Clara-Schumann-Biografie von 1990 mit einer dichten Folge von Büchern vor allem über unangepasste und „widerständige“ Frauen hervorgetreten ist – das neue Werk fügt sich in diese Phalanx ohne weiteres ein (thematisch berührt es sich übrigens naheliegend mit Uwe Wittstocks jüngst erschienener erzählender „Jahreschronik“ „Marseille 1940“).

Von der Schulabbrecherin zur überzeugten Widerstandskämpferin

Ein imposanter chronologischer Bogen spannt sich da durch ein nahezu komplettes Jahrhundert: 1909 als Elisabeth Ekstein im damaligen Österreich-Ungarn in eine kulturell assimilierte jüdische Familie hineingeboren und in Budapest und Wien aufgewachsen, wurde Fittko – auf der Spur ihres Vaters, der sich nach der Revolution der Kommunistischen Partei Österreichs angeschlossen hatte – nach ihrer Übersiedlung in die deutsche Hauptstadt in der Berliner KPD aktiv. Dieser frühe politische Aktivismus, der bis zur Teilnahme an Straßenkämpfen reichte, führte zum Schulabbruch und zum Verzicht auf ein Studium, das die Familie eigentlich für sie vorgesehen hatte.

1933 begann Hans und Lisa Fittkos rastlose und immer wieder von der Not des materiellen Überlebens gezeichnete Flucht durch die Länder Europas. Auch in Weissweilers flüssig-geschmeidiger und allemal packender Darstellung steht naheliegend die mutige und gefahrvolle Tätigkeit als Fluchthelferin im Vordergrund. Basisquellen sind Fittkos eigene Bücher – neben „Mein Weg über die Pyrenäen“ der Folgeband „Solidarität unerwünscht“ –, die aber gespiegelt werden nicht nur an der einschlägigen Sach- und Fachliteratur, sondern auch an in imposanter Fülle ausfindig gemachten teils unerschlossenen Quellen.

Dabei treten immer wieder Ungereimtheiten und Widersprüche zutage – von Daten bis hin zu personellen Konstellationen –, die den Aussagewert von Fittkos Ausführungen erheblich relativieren. Trog da im Abstand der Jahre das Gedächtnis, oder wurde da vielleicht auch strategisch vergessen? Wie auch immer, im Subtext wird Weissweilers Buch damit auch zu einer einigermaßen faszinierenden Studie über die notwendig perspektivische Verfasstheit von Geschichte: Geschichte „als solche“ gibt es nicht.

Nicht nur Fittkos Leben nach 1945 geht unter

Eine Annäherung an den Menschen Lisa Fittko in seiner emotionalen Substanz jenseits von Politik und Überleben gelingt bei all dem indes nur in eingeschränktem Maß. Temperamentvoll, unbeugsam, durchsetzungsfähig – so stellt sie sich allemal dar, auch erschöpft und zugleich panzerhart geworden durch eine Kaskade von Erfahrungen, die in der Summe eigentlich für fünf Leben ausreichen. Nahezu erschütternd, was sie kurz vor der Schiffsreise von Lissabon nach Kuba notiert: „Wir fahren auf eine Insel, die heißt Kuba. Vater und Mutter sind frei, aber sie können nicht mit. Ich aber sitze hier und nichts rührt sich in mir. Ich habe keine Angst, ich freue mich nicht, ich bin nicht einmal traurig. Ich fühle nichts, gar nichts.“

Leider lässt das lesenswerte Buch noch andere Wünsche offen. Die betreffen zumal den Schlussteil, genauer: die Tatsache, dass fast 60 Jahre dieses langen Lebens summarisch in einem „Nachwort“ abgefeiert werden. Durch diesen Verzicht beraubt sich Weissweiler der Chance, wichtige Fragen zu stellen und, möglicherweise, auch zu beantworten. Warum zum Beispiel betrieb Fittko nach dem Krieg dezidiert und offensichtlich gegen den Willen ihres Mannes die Übersiedlung in die USA und nicht in das von Hitler befreite Deutschland (oder Europa)? Eine mögliche Antwort wäre: Sie wollte nicht zurück in eine vom Antikommunismus des Kalten Krieges vergiftete Heimat (wenngleich ihr prinzipiell auch die DDR als Alternative zur Bundesrepublik offen gestanden hätte). Allerdings: Im Amerika der McCarthy-Zeit sah es in Sachen Antikommunismus keineswegs besser aus. Wie konnte eine eingewanderte „Linke“ in diesem Umfeld überhaupt überwintern?

Dieser Punkt führt auf eine weitere Frage: Wie stand es mit Fittkos politischen Überzeugungen in ihren späteren Jahren? Kam es etwa – im Licht der Erkenntnis der kommunistischen Verbrechen – wie im Fall zahlreicher Gesinnungsgenossen zu einer Revision früherer Auffassungen? Und wie, falls ja, artikulierte und begründete sich diese? Lisa Fittko war eben nicht nur Fluchthelferin, sondern allein dank ihrer Lebensdaten die Zeugin eines hüben wie drüben von Terror, Krieg und Vernichtung erfüllten Jahrhunderts. Diesbezüglich zeigen sich bei Weissweiler ein paar blinde Flecken.


Eva Weissweiler: „Lisa Fittko. Biographie einer Fluchthelferin“. Hoffmann und Campe, 380 Seiten, 25 Euro.

Nachtmodus
KStA abonnieren