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Interview

Ex-RAF-Terroristin Maier-Witt
„Dazugehören war bedeutsamer als moralische Bedenken“

Lesezeit 10 Minuten
Silke Maier-Witt, Autorin von "Ich dachte, bis dahin bin ich tot"

Silke Maier-Witt, ehemaliges RAF-Mitglied, hat ein Buch über ihr Leben geschrieben

Silke Maier-Witt schloss sich 1977 der RAF an. Nach zweieinhalb Jahren verließ sie die Gruppe. Doch die Abkehr vom Terrorismus beschäftigt die 75-Jährige bis heute.

Frau Maier-Witt, Ihre Lebensbeichte „Ich dachte, bis dahin bin ich tot“ trägt den Untertitel „Meine Zeit als RAF-Terroristin und mein Leben danach“. Aber Sie erzählen auch von ihrem Aufwachsen davor. Die Bindungen in ihrer Familie waren eher brüchig, kann man sagen.

Silke Maier-Witt: Ja, die waren vor allen Dingen ziemlich unterkühlt. Diese ersten Jahre sind doch sehr prägend. Also der frühe Tod meiner Mutter und dass wir Kinder, wie das damals so üblich war, außen vor gelassen wurden. Niemand hat sich bemüht nachzuvollziehen, wie es mir oder auch meiner Schwester geht. Ich wurde hin und her geschoben und nicht ernst genommen in den Bedürfnissen, die ich hatte. Das hat schon eine Rolle gespielt in meinem Werdegang. Das entschuldigt natürlich nichts.

Wir reden ja über Gründe für Ihren Einstieg in die RAF, nicht über Entschuldigungen.

Die Frage ist, wer hätte mich abhalten können? Ich habe tatsächlich gedacht, dass ich in der Gruppe angekommen und akzeptiert bin. Und dann hatten wir auch noch so großartige Ziele! Das hat beides den Ausschlag dafür gegeben, dass ich in Kauf genommen habe, dass Siegfried Buback erschossen wurde.

Sie sind ausgerechnet an dem Tag, an dem die Gruppe den Generalbundesanwalt ermordet hat, zur RAF gestoßen.

Ja, und eigentlich hat man Buback nur erschossen, um sich als Gruppe zu finden. Es ist abartig. Aber ich war damals unfähig, das in dieser Weise zu sehen.

Sie haben nach ihrer Haft das Psychologiestudium abgeschlossen, das sie mit 27 abgebrochen hatten, um in die Illegalität zu gehen. Würden Sie als Psychologin heute sagen, dass es Ähnlichkeiten in der Persönlichkeitsstruktur der RAF-Mitglieder gab? Oder kamen da ganz verschiedene Motivationen zusammen?

Ich glaube, es gab unterschiedliche Motivationen. Peter-Jürgen Boock zum Beispiel hatte als Heimzögling einen ganz anderen, viel persönlicheren Zugang zur RAF. Die hat ihm erst einmal die Augen geöffnet und zu seiner Emanzipation beigetragen. Ich kam dagegen aus einem relativ behüteten Hintergrund. Mein Zugang war eher intellektuell. Ich wollte die Welt verbessern. Gegen den Imperialismus, für die Solidarität mit den unterdrückten Völkern. Das war doch alles sehr abstrakt.

Der Gedankengang war: Ich weiß, dass die Welt ungerecht ist und ich, global gesprochen, im Zentrum der Unterdrücker lebe. Folglich macht man sich durch seine bloße Existenz schuldig.

Ja, genau. Und daraus resultierte auch diese Überzeugung, wie die RAF das damals ausgedrückt hat, im Gehirn des Feindes etwas bewirken zu müssen. Es ist fürchterlich, zu glauben, dass irgendetwas zum Besseren verändert wird, wenn man eine Person tötet. Heute Morgen hat mir eine Freundin erzählt, sie wollte früher auch die Welt verändern. Aber dann habe jemand zu ihr gesagt: Ja, deine Welt vielleicht. Ich glaube, das junge Leute das immer noch denken: Wenn ich nur laut genug schreie und mich laut genug wehre, wird sich die Welt ändern.

Aber diese Hybris der Jugend muss ja nicht zwangsläufig zum Mord führen wie im Fall der RAF.

Nein, dazwischen liegt ein breites Feld. Aber dieses Feld hat die RAF damals zerstört. Durch die Konzentration auf die Gewalttaten war es für andere viel schwerer, gewaltlos etwas zu verändern.

Die RAF hat dem Staat ein radikales „Nein“ entgegengestellt. Und die harte Reaktion des Staates war ein ähnlich radikales Echo auf dieses „Nein“.

Ja, und das war wiederum für die RAF Bestätigung und Rechtfertigung: Wir haben recht, wir haben den wunden Punkt getroffen. So hat sich das gegenseitig hochgeschaukelt.

Die Tatsache, dass ich bereit dazu war, jemanden zu erschießen, das ist das eigentlich Erschreckende.
Silke Maier-Witt

Sie schreiben im Buch selbst, dass die RAF etwas von einer Sekte hatte, von einem Kult. Wann ist Ihnen der Gedanke zum ersten Mal gekommen?

Als ich nach der Wende in Bühl in Haft saß, hatte eine Frau die Zelle neben mir, die Mitglied der Bhagwan-Sekte war. Sie hat ebenso bereut, dass sie da mitgemacht hatte, wie ich meine Zeit in der RAF. Da ist mir klar geworden, dass ich, wenn ich in eine solche Gruppe eintrete, Verantwortung abgebe, Bestätigung finde und mich auf eine scheinbar sichere Seite begebe. Denn die wissen schon, was richtig ist und ich gehöre dazu und bin anerkannt. Das hat schon sehr viel Ähnlichkeit.

Hat die Reflexion in dem Moment, in dem Sie der RAF beigetreten sind, bei Ihnen einfach ausgesetzt?

Nein, das nicht. Aber das Dazugehören war bedeutsamer als die moralischen Bedenken. Die Tatsache, dass ich bereit dazu war, jemanden zu erschießen, das ist das eigentlich Erschreckende. Wie konnte ich? Und natürlich suche ich nach Erklärungen, die bis in die Kindheit zurückgehen.

Ist das ein Gedanke, der sie nachts wachhält? Sie waren ja bewaffnet. Wenn Sie auf einem Ihrer Boten- oder Spähgänge erkannt, oder von der Polizei überrascht worden wären, hätten Sie dann geschossen, wie einige andere RAF-Mitglieder?

Ja, das habe ich mir oft überlegt. Ich möchte sagen können: Nein. Aber ich weiß es nicht. Ich glaube eher nicht. Aber was wäre passiert, wenn wir zu zweit gewesen wären und der oder die andere hätte die Waffe ergriffen? Hätte ich das dann auch gemacht oder hätte ich die Hände gehoben? Ich hatte eher Angst vor Gewalt, was ja eigentlich ein ganz normaler Reflex ist.

Freundschaft war nicht vorgesehen. Ideologisch gesehen sollte alles an der Aktion ausgerichtet sein.
Silke Maier-Witt

Andere RAF-Mitglieder haben vielleicht genau diese Gefahr gesucht, das Abenteuer.

Ja, den gab es bestimmt für einige, diesen Abenteueraspekt.

Wenn ich Ihr Buch lese, gewinne ich den Eindruck, dass es zwischen den Mitgliedern zwar Affären, Eifersüchteleien und ideologischen Streit gab. Aber keine tiefen Freundschaften.

Ja, das war so. Es gab Leute, die hatten die gleichen Wurzeln und ähnliche Motivationen. Aber tiefe Freundschaft war nicht vorgesehen. Ideologisch gesehen sollte alles an der Aktion ausgerichtet sein. Es wurde auch keine Rücksicht darauf genommen, mit wem man zusammen Aktionen ausführen wollte, außer wenn man sich auf der höchsten Leiter der Hierarchie befand. Für Freundschaft haben wir viel zu wenig über uns, über unsere Motivation oder über das, was wir eigentlich wollen, geredet. Man sprach in Versatzstücken, im RAF-Sprech. Die RAF-Erklärungen waren ja auch nicht sehr gründlich durchdacht. Die Motivation war ausschließlich darauf gerichtet, die Gefangenen aus Stammheim rauszuholen. Mit einer dahinterstehenden Strategie oder Politik hatte das gar nichts zu tun. Gesteuert wurde die Gruppe hauptsächlich von denen, die in Stammheim saßen. Als die dann tot waren, blieb nur ein Loch. Die Aktionen waren gescheitert, die meisten RAF-Leute waren verhaftet worden. Das war eigentlich das Ende.

Die Mordanschläge, die trotzdem noch folgten, hatten eher den Charakter von Hinrichtungen.

Ja, das waren technisch ausgefeilte Hinrichtungen. Denken Sie an den amerikanischen Soldaten, der nur wegen seines Ausweises umgebracht wurde. Das war an Scheußlichkeit kaum zu überbieten.

Sie sprechen von einem Loch. Haben Sie Ihren eigenen Ausstieg auch als Sinnverlust erlebt?

Ja, ich war zuerst nicht in der Lage, etwas Positives daran zu sehen, dass ich nicht mehr bereit war mitzumachen. Es war erstmal ein Verlust, ein Verlust an Zugehörigkeit.

Gab es einen Moment, etwa nach der gescheiterten Schleyer-Entführung, an dem für Sie alles zusammengebrochen ist?

Nein, das war ein schleichender Prozess. Ich habe schon im Jemen gemerkt, dass ich mich von der Gruppe entfernt hatte. Beziehungsweise, dass ich meine Zweifel, die ich hatte, nicht in der Gruppe aussprechen wollte und konnte.

Warum nicht?

Weil jeder darum gekämpft hat, wieder als Teil der Gruppe anerkannt zu sein. Ich habe uns damals nicht mehr als funktionsfähige oder auch nur politische Gruppe gesehen. Aber was war die Alternative, was konnte ich tun? Als ich wieder nach Europa zurückkam, habe ich noch mal eine Funktion bekommen.

Als bei diesem Banküberfall eine unbeteiligte Frau erschossen wurde, war mir endgültig klar: Das war es jetzt.
Silke Maier-Witt

Sie haben bei der Vorbereitung eines Banküberfalls in Zürich mitgeholfen.

Und als bei diesem Banküberfall eine unbeteiligte Frau erschossen wurde, war mir endgültig klar: Das war es jetzt. Dass einige andere trotzdem weitermachen und ich denen dabei nicht im Wege stehen wollte, das ist in der Rückschau auch absurd. Aber so war es halt.

Sie sind mithilfe der Staatssicherheit in der DDR untergetaucht. Auch da versuchten Sie immer wieder Tritt zu fassen, sich an der Utopie des Sozialismus festzuhalten.

Ja. Wenn schon nicht Revolutionärin in der RAF, dann wenigstens gute Sozialistin. Ich wusste, dass die DDR dem nicht entspricht, aber die Idee fand ich trotzdem noch gut. Auf der anderen Seite habe ich gesehen, dass die Menschen in der DDR völlig falsche Vorstellungen hatten, von dem, was in Westdeutschland ablief. Die haben mit großer Naivität daran geglaubt, dass im Westen die goldenen Äpfel an den Bäumen hängen. Dass dem nicht so ist, konnte ich aber nicht glaubhaft vermitteln, weil ich mich ja nicht enttarnen durfte. Als ich dann Ende der 1980er in Neubrandenburg diese Penicillin-Fabrik mitaufgebaut habe, da habe ich selbst gesehen, dass die DDR das wirtschaftlich nicht schafft. Nach dem Zerfall der DDR dachte ich mir: Jetzt bin ich wieder in so eine Falle getappt.

Viele DDR-Bürger erlebten diesen Zerfall als Befreiung, für Sie bedeutete die Wende Knast, sie wurden in die Bundesrepublik abgeschoben.

Aber ich empfand den Knast nicht als schlimm. Ich fand ihn lehrreich. Ich hatte meinen Namen und meine Geschichte wieder und musste mich nun endlich der Frage stellen, was mich dazu bewogen hatte, das Töten von Menschen zu rechtfertigen. Vorher waren die Leute von der Stasi die einzigen, mit denen ich über meine Vergangenheit sprechen konnte. Und die hatten kein Interesse daran, das zu vertiefen.

Hatten Sie nach der Haft das Gefühl, ihre Schuld gegenüber der Gesellschaft bezahlt zu haben? Oder bleibt die Reue ein fortlaufender Prozess?

Ja, das hatte ich gedacht. Aber da war eben nicht so. Bei jedem Versuch, ein neues Leben anzufangen, bin ich wieder mit meiner Vergangenheit konfrontiert worden. Es gab Leute, die das immer noch irgendwie toll fanden und dann gab es diejenigen, die immer noch Angst davor hatten oder um das Renommee ihrer Einrichtung fürchteten, wenn ich mich für ein kostenloses Praktikum bei ihnen bewerben wollte. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich hatte gedacht: OK, ich bin jetzt Psychologin und jetzt kann ich als Psychologin arbeiten.

Sie haben schließlich als Friedensfachkraft im Kosovo gearbeitet, unmittelbar nach dem Krieg dort. Sie haben einiges bewegt. Eine etwas amoralische Frage: Haben Sie in ihren Jahren im Untergrund praktische Dinge gelernt, die sie dort zum Guten anwenden konnten?

Ich kann Ihnen ein Beispiel geben, das nicht im Buch steht. Im Rahmen der Ausbildung zur Friedensfachkraft habe ich ein Praktikum bei einem Kollegen in Kroatien gemacht, in einer Gegend, in der Kroaten Serben vertrieben hatten. Da gab es einen Australier, der nach Kroatien gekommen war, um an den Kämpfen teilzunehmen. Vor dem hatte mein Kollege fürchterliche Angst, weil der immer bewaffnet herumlief. Ich habe mir gesagt, ich rede einfach mal mit dem. Es stellte sich heraus, dass er nur ein ganz armes Würstchen war, mit zerschossenen Hoden. Der hatte zwar immer eine Waffe im Schrank, aber deswegen war er nun nicht gleich der Bösewicht. Letztlich hat er sich sogar bereit erklärt, sich schützend vor die zurückkehrenden Serben zu stellen. Ich habe in meinem Leben gelernt, dass es zwischen Gut und Böse keine scharfe Trennungslinie gibt. Durch meine Geschichte habe ich keine Berührungsängste und keine Vorurteile. Deshalb fällt es mir leichter, die Vermittlerrolle einzunehmen.

Sie sind jetzt 75 Jahre alt. Sie haben Ihr Leben in diesem Buch aufgeschrieben. Gibt es noch unerledigte Dinge für Sie?

Ich hatte angefangen, die Geschichte des Balkans zu studieren und wollte eine Masterarbeit über den letzten DDR-Diplomaten in Albanien schreiben. Das hatte ich zugunsten des Buches hintan geschoben. Und das Kapitel Kosovo und Mazedonien ist sehr kurz geraten. Da gibt es noch so viele Geschichten zu erzählen, dem möchte noch mal genauer nachgehen. Wenn ich denn noch so viel Zeit und Kraft habe.