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NachrufGerhart Baum – Ein Gewissen seiner Zeit

Lesezeit 8 Minuten
Gerhart Baum, aufgenommen am 18. Dezember 2024 in seiner Wohnung in der Kölner Südstadt.

Gerhart Baum, aufgenommen am 18. Dezember 2024 in seiner Wohnung in der Kölner Südstadt.

Bis in seine letzten Lebenstage beschäftigte den 92-Jährigen, wie sich unsere Demokratie gegen Rechtsextremismus wehren kann.

Dass ihm nicht mehr viel Zeit bleibt, wusste Gerhart Baum schon länger. Aber gerade jetzt, da Rechtsextreme und Populisten die Demokraten teuflisch vor sich hertreiben, da die Trumps und Musks, die Weidels und Kickls im Namen der Freiheit die Freiheit bedrohen, wollte er noch nicht abtreten. Doch in der Nacht zum Samstag ist er in Köln gestorben.

Vergangenen Dienstag, von Krankheit schon schwer gezeichnet, lag der 92-Jährige im Herzzentrum der Kölner Uniklinik und hob die Stimme. Er musste oft pausieren, weil er müde war und schlecht Luft bekam, und hörte doch nicht auf zu sprechen.

„Wir müssen uns besinnen, bevor es zu spät ist!“, rief er mit heiserer Stimme. Eine wehrhafte Demokratie dürfe nicht zulassen, dass „eine freiheitliche Verfassung von Systemverächtern benutzt wird, um sie abzuschaffen“. Statt in Schockstarre zu verfallen, müssten endlich „alle Demokraten dafür kämpfen, dass die mit den Menschenrechten und dem Grundgesetz errungenen Werte erhalten bleiben. Alle müssen das!“

Gerhart Baum: Es drohe neue „Menschheitskatastrophe“

Seine Frau Renate Liesmann-Baum war wie immer an seiner Seite. Reichte ihm zu trinken, hielt seine Hand. Dass gerade Hunderttausende gegen Rechtsextremismus demonstrierten, das sei gut, sagte Gerhart Baum – es reiche aber nicht mehr aus. „Wir müssen Gemeinschaften bilden. Wir brauchen Zusammenhalt. Engagement. Mit allen Demokraten, egal, welcher Farbe. Ständig!“ Sonst, sagte Baum, „erleben wir eine neue Menschheitskatastrophe“.

Bis kurz vor seinem Tod arbeitete Gerhart Baum, der mit seinem lebenslänglichen Engagement für Menschenrechte, Demokratie und bürgerliche Freiheiten zu einem Gewissen seiner Zeit wurde, an einem Appell.

Die Wut setzte neue Energie bei ihm frei, erzählt seine Frau

„Die aktuellen politischen Entwicklungen haben meinen Mann so wütend gemacht, dass das nochmal sehr viel Energie freigesetzt hat“, sagte Renate Liesmann-Baum am Rande des letzten Treffens. Ständig gingen Anrufe und Mails bei ihr ein. Freunde und Weggefährten fragten nach Baums Befinden, Journalisten nach Interviews zur politischen Lage.

Am Sonntag, gut einen Tag seinem Tod, verlas Baums Weggefährtin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger in der Dresdner Semper-Oper eine Rede Baums zur Verleihung des Dresdner Friedenspreises an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Darin erinnert sich der 92-Jährige auch an die Bombennacht von Dresden, die er im Alter von zwölf Jahren vor genau 80 Jahren in der sächsischen Hauptstadt überlebte.

Unermüdlicher Einsatz für die Würde und Freiheitsrechte der Menschen

Sein Vater kehrte nicht aus russischer Kriegsgefangenschaft zurück. Seine Mutter, eine gebürtige Russin, floh mit ihm und seinen jüngeren Zwillingsgeschwistern aus dem zerstörten Dresden an den Tegernsee. 1950 zog die Familie nach Köln.

Das undatierte Archivbild von 1990 zeigt die Ruine der barocken Frauenkirche in Dresden, die kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges nach der Bombennacht vom 13. zum 14. Februar 1945 am 15. Februar in sich zusammen fiel und bis 1993 als Mahnmal unverändert blieb, bevor der Wiederaufbau begann.

Das undatierte Archivbild von 1990 zeigt die Ruine der barocken Frauenkirche in Dresden, die kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges nach der Bombennacht vom 13. zum 14. Februar 1945 am 15. Februar in sich zusammen fiel und bis 1993 als Mahnmal unverändert blieb, bevor der Wiederaufbau begann.

Tief prägte sich ihm die Katastrophe ein, die der Krieg und der Kampf der Alliierten gegen die Barbarei des Nazi-Regimes über seine Stadt und ihre Bewohner gebracht hatten. So entstand in ihm der Wunsch, aus der Verantwortung der Deutschen für den Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus heraus am Aufbau einer neuen, besseren Gesellschaft mitzuwirken. Das „Nie wieder!“ übersetzte Baum in den unermüdlichen Einsatz für die Würde und die Freiheitsrechte des Menschen. „Dieser Kampf endet nie – das ist eine ganz wichtige Erkenntnis”, sagte er hochbetagt.

Gerhart Baum bekämpfte Alt-Nazis in der FDP

Schon als 20-Jähriger hatte er dem Literaturnobelpreisträger Thomas Mann einen Brief geschrieben, in dem er seine Sorge um die Demokratie äußerte. Manns wohlwollende Antwort bestärkte ihn. Ein Lebensmotto entlieh er sich aus einer Rede Thomas Manns zum 150. Geburtstag Friedrich Schillers: „Wir müssen uns leiten lassen von der rettenden Ehrfurcht des Menschen vor sich selbst.”

Seine politische Heimat fand Baum in der FDP, weil ihm die Ideen von Eigenverantwortung und Bürgerrechten zusagten. Vehement bekämpfte er die Alt-Nazis in seiner Partei. Baum gehörte zu den Reformliberalen: Bildung für alle, Emanzipation, Umwelt- und Minderheitenschutz standen auf seiner Agenda. Ein kalter, allein auf die (wirtschaftliche) Stärke des Individuums setzender Liberalismus war ihm zuwider. Er hob zeitlebens die soziale Komponente der Freiheit hervor, weil er wusste: Die Entfaltung des Einzelnen bedarf der Unterstützung und – wo nötig – auch des Schutzes durch die Gemeinschaft. Das hatte Baum in jungen Jahren selbst erfahren: Eine fürs Jurastudium unerlässliche Sammlung von Gesetzestexten bekam er vom Staat finanziert, weil ihm selbst das Geld dafür fehlte.

Robert Habeck mochte er, für Christian Lindner gab es Kritik

Baum forderte einen von Solidarität geprägten, „empathischen Liberalismus“, für den auch das schon sehr früh von ihm entdeckte Thema Umwelt eine zentrale Rolle spielen solle. Mit Robert Habeck von den Grünen verstand er sich in den vergangenen Jahren gut. Hingegen kritisierte er zuletzt auch in Gesprächen mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ FDP-Chef Christian Lindner für dessen kalkulierten Bruch der Ampel-Koalition und die – wie er es sah – libertären Auswüchse seiner Partei. Politisch näher als Lindner mit seinem kühlen Politikstil standen ihm Lindners Stellvertreter Johannes Vogel, parlamentarischer Geschäftsführer der Bundestagsfraktion, und Fraktionsvize Konstantin Kuhle. Die häufigen Journalistenfragen, ob er denn am 23. Februar in der Bundestagswahl wieder für die FDP stimmen werde, nervten ihn am Ende etwas. „Es braucht dringend eine liberale Partei“, sagte er entschieden. „Aber keine Klientelpartei.“

Die dramatischste Phase und die Hochzeit seiner politischen Laufbahn waren der „Deutsche Herbst” mit dem Kampf des Staates gegen den Linksterrorismus der „Rote Armee Fraktion” (RAF). Als Innenstaatssekretär saß Baum 1977 in den Krisenstäben nach der Entführung und Ermordung von Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer. Er erlebte die aufgeheizte Stimmung in der Bevölkerung mit „zum Teil hysterischen Überreaktionen”, die die sozial-liberale Regierung unter Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) – wie Baum rückblickend einräumte – „zu politischen Entscheidungen getrieben hat, die aus rechtsstaatlicher Sicht im Grunde nicht zu verantworten waren”. Er meinte etwa das Kontaktsperregesetz für inhaftierte Terroristen.

Heinrich Böll nannte ihn „den besten Innenminister, den wir je hatten“

1978 übernahm Baum das Bundesinnenministerium. Als er den infolge des RAF-Terrors eingeführten „Radikalenerlass” zur Überprüfung von Millionen Menschen im Öffentlichen Dienst 1979 abschaffte und vor einem Sicherheitsstaat warnte, wurde er selbst als Sicherheitsrisiko und „Unsicherheitsminister“ diffamiert – nicht zuletzt auch, weil er im „Spiegel“ mit dem RAF-Anwalt und -Ideologen Horst Mahler sprach, wodurch er den Sympathisanten verdeutlichen wollte, dass der Weg der RAF ein Irrweg war.

Ein Symbold der RAF auf einem Schreiben der Rote Armee Fraktion (RAF).

Ein Symbold der RAF auf einem Schreiben der Rote Armee Fraktion (RAF).

Der Kölner Schriftsteller Heinrich Böll nannte Baum „den besten Innenminister, den wir je hatten“. Baum charakterisierte seine Zeit im Ministeramt als Phase der Nachdenklichkeit: „Wir wollten nicht entschuldigen, nicht verharmlosen, aber verstehen. Und wir wollten Brücken bauen – Brücken, die man auch heute ins Milieu der islamistischen Terroristen dringend wieder schlagen müsste.” Für eine offenere Debattenkultur ohne Befindlichkeiten sprach sich Baum noch kurz vor seinem Tod am Krankenbett aus.

Gegen den Großen Lauschangriff und Vorratsdatenspeicherung

Bis 1994 saß Gerhart Baum im Bundestag. Nach seiner Laufbahn als Berufspolitiker setzte er sein unermüdliches Engagement für Bürgerrechte fort – auf Kundgebungen des Kölner Vereins Arsch huh, in Interviews und Reden, bei der Menschenrechtsstiftung, die er mit seiner zweiten Frau Renate gründete und mit der er jedes Jahr vorbildliche Menschenrechtsarbeit auszeichnete. Bis 1998 leitete Baum für sechs Jahre die deutsche Menschenrechtsdelegation der UN.

Einen unschätzbaren Dienst hat Baum der Gesellschaft mit seinen vielen Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht erwiesen. So verhinderte der Rechtsanwalt Gerhart Baum gemeinsam mit befreundeten Juristen, allen voran mit seinem Freund und Weggefährten Burkhard Hirsch, den Großen Lauschangriff und die Vorratsdatenspeicherung. Dass Milliarden Menschen ihre persönlichen Daten freiwillig den Internetkonzernen zur Verfügung stellen, bereitete ihm Sorgen.

Leidenschaftlicher Kämpfer für Freiheit und Demokratie, Kunst und Kultur

Die digitale Revolution hielt er für notwendig, um den Wohlstand zu erhalten und den Klimawandel zu stoppen, warnte aber auch früh vor einem Verlust persönlicher Autonomie, vor Überwachung und machtgierigen Tech-Konzernen. Voller Leidenschaft war auch sein Einsatz für Kunst und Kultur – für ihn ein Lebenselixier.

Für seine Verdienste wurde Gerhart Baum vielfach ausgezeichnet. 2023 erhielt er von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier das Große Verdienstkreuz mit Stern der Bundesrepublik Deutschland.

Gerhart Baum (l., FDP), ehemaliger Bundesinnenminister, steht nach der Verleihung des Großen Verdienstkreuzes mit Stern des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland 2023 an ihn zusammen mit seiner Ehefrau Renate Liesmann-Baum und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Schloss Bellevue.

Gerhart Baum (l., FDP), ehemaliger Bundesinnenminister, steht nach der Verleihung des Großen Verdienstkreuzes mit Stern des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland 2023 an ihn zusammen mit seiner Ehefrau Renate Liesmann-Baum und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Schloss Bellevue.

„Mit Gerhart Baum haben unser Land und die Freien Demokraten eine der kräftigsten Stimmen für Freiheit, Menschenrechte und Demokratie verloren“, schrieb FDP-Chef Christian Lindner auf der Plattform X. „Er war eine unabhängige Persönlichkeit mit kritischem Urteil, die unsere liberale Familie gestärkt hat.“

Auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) würdigte seine Verdienste: „Mit Gerhart Baum verliert unser Land einen großen Liberalen und engagierten Demokraten, der keine Auseinandersetzung scheute. Bis zuletzt hat er sich klug zu Wort gemeldet und sich um Deutschland verdient gemacht.“

Gerhart Baum war ein kritischer Optimist

Baums Stimme blieb auch deswegen gefragt, weil er nie nur bedrohliche Szenarien skizzierte, sondern ein kritischer Optimist blieb. „Der Kampf für die Menschenwürde endet nie – das ist eine ganz wichtige Erkenntnis“, sagt er vergangenes Jahr in seiner Dankesrede zur Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die juristische Fakultät der Universität zu Köln. Hier hatte er Mitte der 1950er Jahre studiert. Zum 75-jährigen Bestehen des Bundestags im September 2024 sagte er im Reichstag: „Ich bin nicht ohne berechtigte Hoffnung, dass unsere Gesellschaft die Kraft hat, den Aufbruch in eine neue Zukunft zu schaffen.“

Vergangenen Dienstag bekräftigte er diese Hoffnung noch einmal im persönlichen Gespräch: Sorge und Wut müssten umgewandelt werden in Zusammenhalt, Engagement – und Taten. „So können wir die Krise überwinden und die Rechtsextremen in ihre Schranken weisen“, sagte er. „Wir müssen jetzt kapieren, was auf dem Spiel steht. Dann können wir die Demokratie retten!“