Im Rahmen der Ruhrtriennale führt Gisèle Vienne im ehemaligen Salzlager der Kokerei Zollverein harte Kost auf. „Extra Life“ handelt von sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen.
Ruhrtriennale: „Extra Life“Stück über sexuelle Gewalt an Minderjährigen
Eines muss eigentlich schon vorher klar sein: Wenn eine Choreografin und Regisseurin von kindlichen Traumata, konkret: von sexueller Gewalt gegen Kinder erzählt, dann kann das, ja: darf das wohl kaum ein unterhaltsamer Theaterabend werden. Es muss schwer werden. Für alle im Raum. Und „Schwere“ - das ist so etwas wie die choreografische Leitidee von Gisèle Vienne.
Ein junger Mann, eine junge Frau, gespielt von Frankreichs Schauspielstar Adèle Haenel, die mit der Tänzerin Katia Petrowick eine Art körperliches Double an die Seite bekommt. Die beiden sind Geschwister. Sie kommen von einer Party, hocken in der Morgendämmerung chipsfutternd in einem Auto und kichern über eine Radiosendung, die von extra-terrestrischem Leben handelt. Von Aliens etwa, die einen nachts aus dem Bett holen.
Gisèle Viennes Stück behandelt sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche
Und schnell wird klar: Es gab da in ihrer Kindheit auch so einen „Alien“ an ihrem Bett. Es gab den schon fast zum Klischee gewordenen bösen Onkel, der sie vielfach missbraucht hat. Mit galligem Humor setzt Gisèle Vienne ihr großes Thema: die Gewalt, oft eben auch sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche, und vor allem: Was sie mit den Menschen macht. Ein Trauma, das alles verändert: die Wahrnehmung, das Denken, den Körper, die Worte.
Vienne hat für das schwierige Thema längst schon eine angemessene künstlerische Form gefunden. Ihre Filme und Installationen sind etwa im Centre Pompidou und dem New Yorker Whitney Museum zu sehen, ihre Stücke touren international, auch das bei der Ruhrtriennale uraufgeführte „Extra Life“ wird danach in vielen großen Häusern gezeigt.
Ruhrtriennale: Theater in der Kokerei Zollverein Salzlager Essen
Nach dem textlastigen Einstieg verliert sich bald schon die Sprache, und das Geschwisterpaar steigt aus dem Auto in eine eisig-graue Mondlandschaft, die fantastisch in die Beton-Ruine des Salzlagers von Zeche Zollverein passt. Nebelschwaden kriechen über einen toten Schotterboden hinweg. Mühsam ist jeder Schritt, als hätten die drei Performer auf der Bühne bleischwere Astronautenstiefel an.
Die Knie sacken ihnen weg, die Schultern hängen schief. Der Körper ist den Menschen eine Last. Und in keinem Moment „zeigen“ sie ihn wirklich. Nie stehen sie einfach mal aufrecht da. Dazu die psychedelischen Synthesizer-Klänge von Komponistin Caterina Barbieri, in die unvermittelt wuchtige Sounds brechen: Der Hall von zuschlagenden Türen, ein gefährliches Grollen wie ein sich auftürmender Sturm, obszöne Schmatzgeräusche.
So überlässt es Gisèle Vienne vor allem der Akustik, das Grauen zu inszenieren - wenn man mal von einer ihrer berühmten Grusel-Puppen absieht, die durch einen Schockeffekt plötzlich auftaucht: ein leichengrünes Kind mit blutverschmiertem Monstergebiss wie aus dem Horrorklassiker „Der Exorzist“ des kürzlich verstorbenen William Friedkin.
„Extra Life“ imitiert Computerspiele
Und wie immer bei Gisèle Vienne: Der Albtraum lässt sich Zeit. Alles vollzieht sich in Slowmotion, die Bewegungen der Performer genauso wie das fantastische Licht von Yves Godin, das mit kriechenden Laserstrahlen grellrote Spinnennetze durch den Raum webt oder eisblaue Wände zieht. Das erinnert dann an die virtuellen Labyrinthe von Computerspielen, durch das die dritte Performerin auf der Bühne cruised - gekonnt die Grobmotorik von Avataren imitierend. Hier gibt es das titelgebende „Extra Life“, ein neues Leben, wenn das alte verschlissen ist.
So erzählt Vienne von der Weltflucht der Traumatisierten, von ihrem Abdriften in die Welt des Gamings, der Drogen, auch des Raves. Selbstmordversuche werden erwähnt. Panikattacken, Ess-Störungen. Solche psychosozialen Trauma-Analysen könnten schnell platt werden, wenn Gisèle Vienne dem nicht ihre bewährte radikale Ästhetisierung entgegensetzen würde. Und wenn sie die Zuschauer nicht dazu verdonnern würde, diesen Zeitlupen-Trauerzug durch die Gerölllandschaft zweier verletzter Seelen zwei Stunden lang mitzugehen. Hier gilt es eben was auszuhalten.
Premiere am 16.08.2023. Weitere Vorstellungen am 17., 18. und 20.08.2023 in der Kokerei Zollverein Salzlager.