Der Kölner Kabarettist und Schauspieler Fatih Çevikkollu geht in seinem Buch „Kartonwand“ der Frage nach, ob es einen Zusammenhang zwischen psychischen Erkrankungen und Arbeitsmigration gibt.
Fatih Çevikkollu über Migration„Es gab keinerlei Bestrebungen, sie einzugliedern in die Gesellschaft“

Fatih Çevikkollu hat ein Buch über seine Familie und die Folgen der Migration nach Deutschland geschrieben
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Herr Çevikkollu, Ihr Buch heißt „Kartonwand“. Was hat es mit dieser Wand auf sich?
Die Kartonwand ist das Symbol der Sehnsucht der Arbeitsmigranten, die nach Deutschland gekommen sind und davon geträumt haben, zurückzukehren. Alles, was für die Rückkehr zusammengespart wurde, wurde in Kartons gesteckt. Das waren Dinge für die Zeit, wenn das Leben richtig losgeht. Ich weiß von vielen Menschen, die eine ähnliche Biografie haben, dass sie auch eine solche Wand zu Hause hatten. Das war ein Leben im Standby-Modus. Ich weiß, was es heißt, im Schatten einer Mauer aufzuwachsen.
Ihre Eltern sind nach dem Anwerbeabkommen mit der Türkei als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen. Besonders für Ihre Mutter war das schwer, zumal ihr Vater nicht begeistert von der Idee der Auswanderung war. Wie groß war der Druck, der für sie dadurch entstanden ist?
Er war wahrscheinlich enorm groß. Meine Mutter war Grundschullehrerin, arbeitete, hatte ihren Platz. Dann ist sie nach Deutschland gekommen und konnte hier nicht als Lehrerin arbeiten. Sie hat einen Statusverlust erlebt, wie viele Menschen, die nach Deutschland kommen. Mein Vater hatte seinen Job in der Türkei und den hatte er auch hier, nur dass er hier deutlich besser verdient hat. Sie haben sich zurechtgefunden, weil sie glaubten, sich nur temporär eingerichtet zu haben. Über allem stand: Wir gehen zurück.
Sie werden zu Eltern gemacht, ihnen wird mehr Verantwortung aufgebürdet, als sie tragen sollten. Das ist kein Job für ein Kind.
Sie wurden 1972 in Köln geboren und haben einen älteren und einen jüngeren Bruder. Weil es ja bald zurückgehen sollte, hat man Ihren älteren Bruder und auch Sie zu den Großeltern in die Türkei geschickt. Wie hat es sich auf Ihr Verhältnis zu Ihren Eltern ausgewirkt?
Das hat sich erst Jahrzehnte später ausgedrückt. Anfangs war das nicht sichtbar, nicht fühlbar. Die Kinder in die Türkei zu schicken, bevor sie hier Wurzeln schlagen, klang damals richtig und plausibel. Wir kommen ja bald nach. Das war ein weitsichtiger Gedanke. Aber es gab die Trennung, und die ist aus heutiger Sicht nicht gut, denn die Eltern-Kind-Bindung stellt sich dann nicht ein. Bei der Arbeit an dem Buch merkte ich, das war problematisch für mich, aber auch für sie.
Bei vielen Kindern Ihrer Generation war es so, dass sich die Rollen vertauscht haben. Nicht die Eltern erklären den Kindern die Welt, sondern die Kinder müssen ihnen helfen, sich zurechtzufinden.
Das ist für die gesamte Generation exemplarisch. Die meisten, wenn nicht sogar alle, haben schon sehr früh Briefe übersetzen, Amts- und Arztgänge machen müssen. Man spricht da von der Parentifizierung der Kinder. Sie werden zu Eltern gemacht, ihnen wird mehr Verantwortung aufgebürdet, als sie tragen sollten. Das ist kein Job für ein Kind.
Die Ehe Ihrer Eltern zerbrach. Ihre Mutter ging zurück in die Türkei. Sie hatte eine Psychose, der Kontakt war zuletzt nur sporadisch. Was hat die Nachricht von ihrem Tod in Ihnen ausgelöst?
Ich hatte diese Nachricht erwartet. Die psychische Erkrankung meiner Mutter war uns ja allen bekannt. Meine Mutter hat schon in den 1990ern, als sie aus ihrer Wohnung in Nippes mussten, begonnen, sich auffällig zu verhalten. Familienangehörige von psychisch Kranken stehen im Schatten: Du hast kein Wissen, keine Macht, keine Handhabe. Du fühlst dich schuldig. So ging das Jahre, und ich war damit komplett überfordert. Sie war in der Türkei und wollte dort auch bleiben. Das war ja ihr Lebensplan. Sie war sich des seelischen Ungleichgewichts aber nie bewusst. Als dann die Nachricht kam, war ich wie vom Donner gerührt. Äußerlich war alles still und ruhig, aber tief unten war Kernschmelze.
Man kann sie doch nicht gleichsetzen mit jemandem, der noch nie in Deutschland war. Das ist auch ein Teil der Ohnmacht
Sie wollte in der Türkei bleiben, aber gab es die Überlegung, sie nach Deutschland zu holen?
Ja, aber rechtlich wäre das schwierig gewesen. Sie hatte ihren Aufenthaltsstatus verwirkt. Wenn man die deutsche Staatsbürgerschaft nicht hat, darf man nicht länger als sechs Monate außer Landes sein, sonst ist danach alles vorbei. Dass sie hier drei Söhne hat, die deutsche Staatsbürger und Teil der Gesellschaft sind, spielte überhaupt keine Rolle. Die Gesetze sehen einen solchen Fall nicht vor. Man kann sie doch nicht gleichsetzen mit jemandem, der noch nie in Deutschland war. Das ist auch ein Teil der Ohnmacht. Aber das ist eine Stacheldrahtwand, da gibt es nichts zu verhandeln.
Die Frage ist natürlich hypothetisch, aber wie groß war nach Ihrer Einschätzung der Einfluss der Auswanderung nach Deutschland darauf, dass Ihre Mutter krank geworden ist. Sie haben sich doch sicher häufig die Frage gestellt, was gewesen wäre, wenn sie in der Türkei geblieben wären.
Absolut. Das ist der Grundgedanke des Buches: Wie bedingen sich Migration und psychische Krankheit? Gibt es eine Verbindung und wenn ja, welche? Wir können eines klar sagen: Migration löst keine psychischen Krankheiten aus. Aber es gibt verschiedene Faktoren, die zusammenkommen müssen und dann kann es im Falle einer Veranlagung zu einer Psychose kommen. Von diesen Faktoren ist Migration einer. Migration ist immer eine Stresssituation. Der Statusverlust, die Kinder sind weg, der Lebenstraum erfüllt sich nicht. Und das auf so viele Jahre betrachtet ist dann der Tropfen, der den Stein aushöhlt.
Der Tod Ihrer Mutter hat trotz der Distanz eine Rolle dabei gespielt, dass Ihre eigene Beziehung zerbrochen ist. Warum?
Dieses ganze „Wir kehren zurück“ und die Identifikation mit der Türkei macht ja etwas mit dir. Wenn du als Türke in Deutschland aufwächst, machst du die Erfahrung, dass deine Anwesenheit hier nicht so priorisiert wird, um es mal freundlich zu formulieren. Du wirst diskriminiert, das Türkische wird immer abgewertet. Ich lebte zu der Zeit in einer Welt, die komplett deutschsprachig war. Mit ihrem Tod war das letzte Türkische weg, der letzte Anker, das Mutterschiff, und ich trieb hilflos in dem Meer. Ich wollte gerne einen Teil dieses Türkischen in meiner Welt behalten. Und so hat es sich ergeben, dass ich eine Frau kennengelernt habe, die diese Sehnsüchte teilt und versteht. Da konnte ich mich komplett fühlen und den Teil lebendig werden lassen, der Zeit meines Lebens immer abgewertet, weggeschoben und runtergemacht wurde.
Sie schreiben, dass die Sehnsucht nach der Rückkehr auch Teil Ihrer Gedanken war. Aber es wäre ja in Ihrem Fall gar keine Rückkehr gewesen.
Genau das ist der emanzipatorische Prozess, den du als Individuum in dieser Konstellation durchmachen musst. Das wird dir immer wieder gesagt, und ist es selbstverständlich. Irgendwann wird man älter und fragt sich, was heißt denn jetzt zurückkehren? Ich kann doch nirgendwohin zurückkehren, wo ich nie war. Aber dieser Gedanke kann in dieser Welt nicht ausgesprochen werden. Und dann merkst du aber auch, das stimmt ja nicht, wir kehren nicht zurück. Wir sagen das, leben aber gleichzeitig die ganze Zeit hier in Nippes. Da entsteht ein Loyalitätskonflikt. Darf ich das sagen?
Diese Geschichte ist eine deutsche Geschichte, so wird es aber nicht wahrgenommen
Wie war Ihr Türkei-Bild? Sie kannten sie ja nur als Sehnsuchtsort und aus Urlauben. Das war doch sicher idealisiert?
Ich habe kein differenziertes Bild dieses Landes. Nicht aus eigenem Erleben. Das waren all-inclusive-Urlaube mit Familienanschluss. Ich spreche sehr gut Türkisch, aber ich merke schon, wenn ich in der Türkei bin, dass die Uhren dort anders ticken, die Sprache ist eine andere, das Tempo, die Codes im Umgang miteinander. Davor steht man unwissend, und das merken die auch. Zugehörigkeit ist für mich ein großes Thema. In dieser kurzen Urlaubszeit habe ich ein selbstverständliches Gefühl der Zugehörigkeit. Aber mit der Realität hat das nichts zu tun.
Sie sagen, es stehen zwei dysfunktionale Systeme nebeneinander. Die türkische Familie und die deutsche Gesellschaft, die Ihnen zuruft, nicht hierher zu gehören. Das macht es natürlich ungleich schwerer, sich zu integrieren. Auf der anderen Seite hätte Ihre Mutter ja auch aus eigenem Impuls Deutsch lernen können.
Diese Dysfunktionalität findet auf beiden Seiten statt. Es geht hier auch nicht um Schuld. Die deutsche Gesellschaft hat gesagt, die werden wieder gehen. Es gab keinerlei Teilhabe-Pläne, keinerlei Bestrebungen, sie einzugliedern in die Gesellschaft. Und auf der familiären Seite besteht die Dysfunktionalität darin, dass sie von Anfang an die Idee hatten, zurückzugehen. Da lohnt es sich nicht, hier etwas anzufangen. Beide haben einen Gedanken verfolgt, der in dem Moment für sie richtig klang. Aber als sie gemerkt haben, dass dieser Gedanke nicht mehr stimmt, hätten sie sich auf die neue Situation einstellen müssen und beidseitig investieren müssen. Da hilft sicher kein Rückkehrförderungsgesetz und auch kein Nein zur doppelten Staatsbürgerschaft. Erst seit 2000 heißt es, sie sind ein Teil unseres Landes. Diese Geschichte ist eine deutsche Geschichte, so wird es aber nicht wahrgenommen.
Dabei ist es doch eigentlich ein Geschenk, in zwei Kulturen, mit zwei Sprachen aufzuwachsen. Konnten Sie das für sich umdeuten?
Ich habe das für mich gemacht. Aber ich habe immer wieder gehört, toll, du bist ja gar nicht wie die anderen. Das ist kein Kompliment. Ich bin keine Ausnahme, Typen wie mich gibt es ohne Ende, Männer und Frauen, die hier geboren und aufgewachsen sind und ein richtig gutes Leben haben. Ich behaupte, dass wir, die zweite Generation, aus dieser Situation eine deutliche Resilienz entwickelt haben. Es gibt unfassbar viele Erfolgsgeschichten.
Sie wissen wenig über Ihre Familie und mussten dann feststellen, dass es Ihrer Tochter genauso geht. Sie weiß wenig über Ihre Geschwister und Eltern. Was war das für ein Moment, als Sie das verstanden haben?
Das war der totale Horror. Ich bin mit den besten Absichten drangegangen. Und dann habe ich festgestellt, ich habe es genauso gemacht. Ich habe keine Ahnung von der Familie meiner Eltern. Und heute steht meine Tochter da und weiß von der Familie ihres Vaters sehr wenig. Der Moment, als mir das klar wurde, hat mich von den Beinen geholt. Ich bin doch angetreten, um es besser zu machen. Aber Verbindung herzustellen ist in unserer Familie nicht die Königsdisziplin gewesen. Und ich merke, ich habe das weitergegeben.
Zugehörigkeit ist ein großes Thema für Sie. An welchem Punkt sehen Sie sich mittlerweile?
Ich spreche aus der Position des Angekommenen. Ich bin glücklich in Köln. Wenn ich in Köln Nippes rumlaufe, sehe ich Menschen, die mich grüßen, und zwar nicht, weil ich auf der Bühne witzige Sachen erzähle, sondern weil wir im Nippeser Tälchen Fußball gespielt haben. Das ist Heimat. Das habe ich in Hamburg oder Berlin nicht. Ich kann das Türkische und das Deutsche haben, und es ist vereint und in Frieden.
Fatih Çevikkollu, Jahrgang 1972, ist ein Kabarettist, Theater-, Film- und Fernsehschauspieler und Sohn türkischer Eltern, die in den 60er Jahren als Arbeitsmigranten nach Deutschland kamen. Er studierte an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin und ging dann ans Düsseldorfer Schauspielhaus. Im Fernsehen spielte er die Rolle des Murat Günaydin in „Alles Atze“. Für sein erstes Soloprogramm Fatihland wurde er 2006 mit dem Prix Pantheon Jurypreis ausgezeichnet. Er lebt in Köln.
Im Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch ist jetzt sein Buch „Kartonwand“ (208 Seiten, 18 Euro) erschienen, in dem er sich mit dem Trauma der Arbeitsmigranten am Beispiel seiner Familie beschäftigt.