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Fatma Aydemir über „Dschinns“„Es unmöglich, den Familienbegriff vom Patriarchat zu lösen“

Lesezeit 11 Minuten
Fatma Aydemir

Fatma Aydemir

Zum Start der Aktionswoche „Buch für die Stadt“ spricht Fatma Aydemir über ihren Roman „Dschinns“, böse Geister und radikale Ehrlichkeit

Frau Aydemir, „Dschinns“ ist ein Familienroman, erzählt aus den Perspektiven der Mitglieder der Familie Yilmaz. Vater Hüseyin kam einst als sogenannter Gastarbeiter mit seiner Familie aus der Türkei nach Deutschland, nach seinem Tod in Istanbul reist die Familie zur Beerdigung an. Das Konstrukt Familie ist in vielen Familien sehr aufgeladen, so auch hier. Das zeigen die Konflikte, die dann aufbrechen.

Das ist genau der Punkt. Es gibt zwei Ebenen: Die persönliche Frage, die Menschen sich stellen sollten, welche Rolle Familie für sie spielt. Und dann gibt es aber auch das gesellschaftliche Verständnis davon. Es ist die rechtliche und auch steuerlich begünstigte Form zusammenzuleben. Diese Überhöhung des Familienbegriffs existiert schichtenübergreifend in unterschiedlichen Kulturen, natürlich mit unterschiedlichen Nuancen, aber egal, wo man sich auf der Welt befindet, gibt es sie.

Was leiten Sie daraus ab?

Es ist wichtig, dass wir über verschiedene Formen von Familie nachdenken. Und am Ende des Tages ist es unmöglich, den Familienbegriff vom Patriarchat zu lösen. Da muss noch sehr viel passieren. Es reicht nicht, nur mit Willenskraft zu sagen, ich gründe jetzt meine eigene Familie, wie ich mir das vorstelle, sondern es muss auch gesetzliche und gesellschaftliche Auswirkungen haben. Der Familienbegriff ist immer verknüpft mit einem starren Bild von Eltern- und Mutterschaft und der biologischen Herkunftsfamilie. Für mich war es interessant, in der Fiktion darüber nachzudenken, dass dieses ganz reale Konstrukt, dass man sich Menschen nahe fühlen sollte, die man sich nicht aussuchen konnte, völlig absurd ist.

Für mich war es interessant, in der Fiktion darüber nachzudenken, dass dieses ganz reale Konstrukt, dass man sich Menschen nahe fühlen sollte, die man sich nicht aussuchen konnte, völlig absurd ist
Fatma Aydemir

Welchen Stellenwert hat die Familie für Familie Yilmaz in Ihrem Roman?

Ich komme selbst aus einer Gastarbeiter-Familie, da hat der Begriff Familie eine zentrale Bedeutung, weil man es ja so organisiert hat, dass die Arbeiter, die gekommen sind, ein paar Jahre später das Recht hatten, ihre Familien nachzuholen aus den Herkunftsländern. Sie war dann die zentrale Bezugsgruppe in einem Land, in dem sie nicht so richtig ankamen, die Sprache nicht sprachen, sich kulturell nicht verbunden fühlten. Familie war eine Art von Schutzraum innerhalb der Fremde.

Ihr erster Roman ist in Ich-Form erzählt, nun beleuchten Sie die unterschiedlichen Perspektiven der Familienmitglieder. Warum haben Sie diesen Zugang gewählt?

Ich hatte einfach Lust, anders zu schreiben. Mein erstes Buch war sehr von der Ich-Perspektive geprägt, der Plot ist aus der Gefühlswelt dieser Figur entstanden. Ich wollte diesmal anders vorgeben. Also habe ich verschiedene Perspektiven in dem Buch. Die Elterngeneration, Mutter und Vater, sind in der zweiten Person geschrieben. Das war das Ergebnis eines Experiments. Es sind die beiden Figuren, die am weitesten von mir entfernt sind - vom Alter, aber auch vom Habitus. Wie schaffe ich es, von ihnen zu erzählen, aber diese Distanz zwischen uns auch zu markieren? Das „Du“ hat dabei geholfen, weil es für mich als Autorin ein Dialog mit der Figur war, und gleichzeitig eine Selbstbefragung der Figur, die in einen Dialog mit sich selbst tritt und Revue passieren lässt, was sie aus ihrem Leben gemacht haben, und wie sie dazu steht.

Vater Hüseyin war die erste Figur, die Sie entwickelt haben. Warum wurde er zum Ausgangspunkt?

Es hat sich alles aus der Hüseyin-Figur entwickelt, aber ich habe ihn zunächst nicht in erster Linie als Vater angeschaut, sondern als Arbeiter aus der ersten Generation der sogenannten Gastarbeiter. Diese Figur hat mich interessiert. Ich habe auch noch nie aus der Perspektive einer Männerfigur geschrieben. Ich habe sehr lange nur diese erste Figur angesehen, an ihr rumgewerkelt, es immer wieder umgeschrieben, bis ich irgendwann die Idee hatte, ich erzähle die Geschichte weiter aus anderen Perspektiven.

Wenn man permanent radikal ehrlich ist und streitet, ist die Frage, hält das überhaupt noch zusammen? Ich glaube schon, dass das zum Bruch führt in manchen Fällen.
Fatma Aydemir

Hüseyin ist die Ausgangsfigur, bleibt aber die große Leerstelle des Romans. War das eine bewusste Entscheidung, weil seine Geschichte auch die Leerstelle innerhalb der Familie ist?

Ja, die Leerstelle existiert innerhalb dieser Familie, von der ich erzähle, sie existiert aber auch in vielen anderen Familien und überhaupt in dieser Community. Das ist die erste Generation. Sie stirbt gerade weg und mit ihr gehen sehr viele Geschichten verloren. Ich dachte, ich wüsste viel über ihn, weil ich mit vielen Hüseyins aufgewachsen bin. Aber je mehr ich versucht habe, mich dieser Figur zu nähern, desto mehr habe ich gemerkt, es ist eine verschwiegene Generation, die nicht viel erzählt hat von den schwierigen Seiten, von den Traumata, die sie zurückgelassen oder die sie begleitet haben, die vielleicht auch die Migration selbst ausgelöst hat. Mit dem Verschwinden der ersten Generation bleibt eine Leerstelle. Was macht das mit denen, die zurückbleiben? Das war eine der zentralen Fragen, die ich mir gestellt habe, als ich die weitere Struktur des Romans entwickelt habe.

Geht es um Familiengeheimnisse, heißt es oft, wir müssen offen über diese sprechen. Aber Ihr Roman zeigt, dass Ehrlichkeit auch die Gefahr birgt, eine Familie zu zerstören. Ist es immer die richtige Entscheidung, radikal ehrlich zu sein?

Natürlich bin ich dafür, dass wir ehrlich zueinander sind. Aber das Konstrukt Familie besteht aus unterschiedlichen Menschen. Vor allem die Kinder entwickeln sich ja mit der Zeit in unterschiedliche Richtungen. Das ist normal und gut, wir sollten nicht Abziehbilder unserer Eltern sein. Aber natürlich führt das zu Spannungen. Inwiefern wir die aushalten können, ist immer auch eine Frage der Kommunikationskultur. Bis zu einem gewissen Punkt müssen bestimmte Dinge vielleicht verschwiegen oder schöngeredet werden, damit es möglich ist, immer wieder zurückzukommen. Damit wir es aushalten, an einem Tisch zu sitzen mit Menschen, mit denen man vielleicht gar nicht mehr so viel gemein hat, auch wenn man eine Geschichte teilt und da Liebe und Wärme ist. Wenn man permanent radikal ehrlich ist und streitet, ist die Frage, hält das überhaupt noch zusammen? Ich glaube schon, dass das zum Bruch führt in manchen Fällen.

Wie sehr verschärft es diese Spannungen, wenn die Erfahrungen der Eltern und Kinder so weit voneinander entfernt sind?

Ich glaube, dass die Migrationserfahrung immer einen großen Graben aufmacht zwischen zwei Generationen, weil die Gegebenheiten so unterschiedlich sind, unter denen man aufwächst. Es ist für beide Seiten schwierig zu verstehen. Aber es ist immer auch eine historische Frage. Die Generation, deren Eltern das Dritte Reich miterlebt haben, hatte ja auch wenige Informationen über das, was ihre Eltern erlebt haben während dieser Zeit. Migration ist ein großes Thema, aber es gibt auch andere Erfahrungen, die einen Graben zwischen Eltern und Kinder schaffen.

Welche Rolle spielt der Verlust einer gemeinsamen Sprache für die Kommunikationsprobleme der Familie?

Das spielt natürlich eine sehr große Rolle. Gleichzeitig kann man es auch metaphorisch sehen. Könnte man wirklich besser miteinander sprechen, wenn man dieselbe Sprache hätte? Das ist offen. Es ist aber natürlich eine zusätzliche Belastung und Distanz. Die Eltern sind mit einer anderen Sprache aufgewachsen als die Kinder, mussten dann die kurdische Muttersprache durch ein Verbot des türkischen Staats ablegen. Durch die Auswanderung kommt dann noch die deutsche Sprache dazu, in der die Kinder aufwachsen, in der die Eltern sich aber gar nicht ausdrücken können. Das verschärft das Kommunikationsproblem und erzeugt gleichzeitig ein Ungleichgewicht. Die Eltern sind nicht mehr in der Lage, ihre Kinder in dem Maße zu schützen und zu verteidigen, für ihre Rechte einzustehen, wie sie das gerne würden. Es fehlt ihnen das Instrument dazu.

Es gibt sehr viel Aberglaube, der mit diesen Geistern oder Dämonen verbunden ist. Es sind unsichtbare Wesen, die unter uns Menschen leben.
Fatma Aydemir über Dschinns

Welchem Kind haben sie sich leicht angenähert, bei welchem war es schwieriger?

Bei Ümit, dem Jüngsten, war es relativ einfach, weil er Teenager ist. Diese Perspektive liegt mir nahe, weil ich immer noch ganz einfach auf diese Erfahrung zurückgreifen kann. Bei den anderen Figuren war es schon schwieriger, zum Beispiel bei Sevda, der ältesten Tochter. Sie ist als Figur tricky, weil sie eine Zwischengeneration ist. Sie gehört weder zu der Generation der Eltern noch so richtig zu den anderen Kindern, weil sie zunächst zurückgelassen wurde, nicht in Deutschland sozialisiert ist. Sie hat noch mal einen anderen Bruch erlebt mit ihrer Familie. Sie ist diejenige, die unter sehr starkem Druck von ihren Eltern aufwächst. Mir war wichtig, diese Figur zu erzählen, weil ich viele Sevdas kenne. Vor allem die ersten Töchter mussten sehr viel aushalten, haben aber oft eine sehr große Stärke entwickelt. Aus dieser Erfahrung heraus haben sie es geschafft, sich auf ihre eigene Art und Weise davon zu emanzipieren. Diesen Kampf zu zeigen, ohne sie als Opfer dastehen zu lassen, war eine Herausforderung für mich.

Sevdas Geschichte ist die vieler Kinder, die erst einmal von den Eltern in der Heimat zurückgelassen wurden.

Ja, es gibt dieses Phänomen des ältesten Kindes, das zurückgelassen wurde. Viele Gastarbeiter kommen ja aus ländlichen Regionen, wo man noch mit den Großeltern zusammenlebte, die sich gekümmert haben. Man ließ sie zurück mit dem Gedanken, dass man ein, zwei Jahre spart und dann wieder zurückkommt. Man wollte den ältesten Kindern nicht zumuten, irgendwo neu anzufangen und dann wieder zurückzugehen. Das war für sie eine sehr krasse Erfahrung. Sevda sehnt sich ja auch besonders danach wegzuziehen. Sie stellt es sich abenteuerlich vor, was ihre Geschwister in einem fremden Land erleben.

Wie entwickelte sich Ihr Verhältnis zu den Figuren?

Es war sehr unterschiedlich. Es gibt auf jeden Fall Figuren, die mir leichter gefallen sind als andere. Ich hatte erstmal ein Bild von ihnen, meinte zu wissen, was ich erzählen will und im Verlauf des Kapitels habe ich dann gemerkt, das stimmt noch nicht so ganz, weil sie doch nicht lebendig genug erschienen oder komplizierter sind, als ich mir das zunächst vorgestellt hatte.

Ihr Roman heißt „Dschinns“. Welche Wesen sind das genau?

Menschen, die im arabischsprachigen Raum sozialisiert sind, kennen sie. Es gibt sehr viel Aberglaube, der mit diesen Geistern oder Dämonen verbunden ist. Es sind unsichtbare Wesen, die unter uns Menschen leben. Man kann sich einen einfangen, dann belästigt er einen oder man ist besessen von ihm. Ich kenne das auch aus meiner eigenen Kindheit. Wenn man das Wort nur ausspricht, hat man schon Angst, dass einer kommt. Als dann dieses Wort, das man nicht sagen sollte, groß auf dem Buchcover stand, haben viele dieses blaue Auge, das bei uns vor bösen Blicken und bösen Mächten schützen soll, gepostet. Manche, die es lesen wollten, haben den Schutzumschlag abgemacht, aber auf dem Hardcover ist es ja auch noch mal gedruckt. Sie sind es nicht so richtig losgeworden. Das ist ein schönes Bild. Dieser Aberglaube, diese sehr vage und diffuse Angst, die viele aus Gruselgeschichten aus ihrer Kindheit kennen, passt einfach sehr gut zu diesem Roman. Etwas ist im Raum, aber wir reden nicht darüber.

Der Roman spielt in den 1990er Jahren. Sie haben gesagt, der antirassistische Diskurs sei heute viel zugänglicher. Gleichzeitig sehen wir den Aufstieg rassistischer Parteien. Mit Donald Trump hat gerade in den USA ein Rassist die Wahl gewonnen. Hat sich die Gesellschaft weiterentwickelt oder ist das nur ein frommer Wunsch?

Im Vergleich zu den 1990er Jahren kann man festhalten, dass es einen größeren Konsens und mehr Wissen über Antirassismus gibt. Ja, wir haben eine AfD, die stärker wird. Aber viele Positionen, die sie heute hat, hatte früher die CDU. Ich will das nicht kleinreden, aber solche Aussagen waren viel mehr Normalität in den Neunzigern, als sie es heute sind. Das bedeutet aber nicht, dass alles toll ist. Ich bin auch nicht voller Hoffnung.

Warum nicht?

Besorgniserregend ist die krasse Spaltung, für die die USA ein sehr gutes Beispiel sind. Es gibt dort nur zwei starke Parteien, es gibt die eine Seite und die andere Seite und dazwischen verläuft ein Graben. Der ist so tief, dass man nicht versteht, wie man die andere Partei wählen kann. Und in den USA gewinnt jemand eine Wahl, der keinen großen Hehl daraus macht, dass er nicht viel von der Demokratie hält. Auch in Deutschland sehe ich für die nächsten Wahlen nicht in eine rosige Zukunft. Es ist wichtig, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, was auch bei uns auf dem Spiel steht.


Fatma Aydemir wurde 1986 in Karlsruhe geboren, sie studierte Germanistik und Amerikanistik in Frankfurt und lebt heute in Berlin. Bis 2023 war sie Redakteurin bei der „taz“. Bei Hanser erschien 2017 ihr Debütroman „Ellbogen“. 2019 war sie gemeinsam mit Hengameh Yaghoobifarah Herausgeberin der Anthologie „Eure Heimat ist unser Albtraum“.

Ihr zweiter Roman „Dschinns“ ist bei dtv in einer Sonderausgabe für das „Buch für die Stadt“ erschienen und kostet 13 Euro. Die Aktion von Literaturhaus Köln und „Kölner Stadt-Anzeiger“ läuft vom 10. bis 17. November. Alle Termine finden Sie auf der Seite zu der Aktion. (ksta)