Der senegalesische Sozialwissenschaftler Felwine Sarr ist einer der meistdiskutierten Denker Afrikas. Er spricht über seinen ersten Roman, geraubte Werke und die Aufarbeitung des Kolonialismus.
Felwine Sarr über die Restitution geraubter Kunst„Es ist notwendig, den kolonialen Teil der Vergangenheit zu heilen“
Herr Sarr, Sie sind ein interdisziplinärer Denker. Wie verhalten sich Utopien und Träume zur politischen Realität?
Felwine Sarr: Wenn mich eine Frage beschäftigt, dann suche ich mir das beste Genre, um sie zu erforschen. Mit der Reise der Zwillinge und den Menschen, denen sie begegnen, wollte ich eine Fiktion schaffen, auch wenn die Frage nach Wissen hier im Hintergrund präsent ist, weil die Fiktion in der Lage ist, Dinge zu erzählen, die ein Essay nicht erzählen kann. Jeder Schreibraum, jede Disziplin, jedes Genre hat seine eigene Präzision.
Im Roman stellen Sie ein Brüderpaar vor, durch das Sie Einblick in ein traditionelles Leben im Senegal und in ein der Literatur und Musik gewidmetes Leben in Frankreich geben. Welche Bedeutung haben beide Lebenswege für die afrikanische Imagination?
Mich interessierte die Frage nach Identität und Alterität zugleich. Es geht um Zwillinge, die in derselben Region geboren sind, sie stammen aus derselben Kultur, aber sie sind auf zwei verschiedenen Wegen in die Welt gegangen und finden im Laufe der Zeit gleichzeitig und doch unterschiedlich zueinander. Meine Idee war es, zu erforschen, wie man seine eigene Alterität hervorbringt. Derjenige, der nach Europa gegangen ist, hat andere Erfahrungen gemacht, erfindet sich neu durch die Erlebnisse seiner Reise. Gleichzeitig befindet sich derjenige, der im Senegal in der Tradition bleibt, auch in einem Prozess der Selbstidealisierung, indem er ein Meister der Ndut [ein senegalesisches Volk] wird.
Felwine Sarr ist Musiker, Schriftsteller, Professor für Sozialwissenschaften in den USA und einer der meist diskutierten Denker Afrikas. In Köln stellt Sarr seinen neuen Roman im Literaturhaus am 25. Mai, 19.30 Uhr, vor: „Die Orte, an denen meine Träume wohnen“ erscheint am 24. Mai im Fischer Verlag, 192 Seiten, 24 Euro.
In „Afrotopia“ situieren Sie die Kultur als Motor von Revolution, die die Wirtschaft und ihre westlichen Produktivitätsvorstellungen verändern soll. Ist Ihr jüngster Roman auch irgendwo in dieser Kulturrevolution angelegt?
Absolut, Wirtschaft ist wichtig, aber sie ist eine Ordnung des Know-hows, des Wissens, wie man Dinge tut, bezogen auf die Produktion, die Einkommensverteilung, die Verteilung von Ressourcen. Aber ich denke auch an die Ordnung von Bedeutungen: die kulturelle und politische Ordnung oder die der Sinne. Warum lebe ich und was muss ich tun, um mich zu verwirklichen? In diesen Räumen findet die tiefere Veränderung statt. In ihnen kann man die Regeln der Gesellschaft organisieren, eine Art kollektive Dynamik schaffen. Wenn wir an die Lebensweisen, die wir teilen und innerlich übernehmen, gehen, haben wir eine tiefgreifendere Revolution als die, die man nur durch das Aufstellen von Regeln und die Einführung eines Kontrollsystems durchführt. So eins brauchen wir, ja, aber der Raum der Kultur ist auf lange Sicht viel effizienter.
Sie haben 2018 zusammen mit Bénédicte Savoy den viel diskutierten „Bericht über die Restitution afrikanischer Kulturgüter“ veröffentlicht. Hat sich die Beziehungsethik zwischen Europa und Afrika seither verändert?
Ich würde nicht sagen, dass es einen Wandel gibt, aber es gibt heute Bewegung, deren Anfang wir miterleben. Und sie wird tiefer und tiefer, schneller und schneller, sie ist geradezu tektonisch. Bénédicte und ich sind sehr glücklich darüber, die ersten realen Folgen der Bewegung zusehen. Es gab schon große Debatten über Beziehungsethik zuvor, doch der Bericht hat es geschafft, die Diskussion zu verändern und operative Ergebnisse zu schaffen. Die Restitution der Schätze des Königreichs Abomey war ein wichtiger Schritt.
Wie haben Sie die restituierten Schätze von Abomey im Benin erlebt?
Ich sah der jungen Generation in der Ausstellung in Contonou zu, wie sie sich wieder mit ihrer Geschichte verbindet. Sie kamen ins Museum in den Präsidentenpalast, um über ihre Vergangenheit zu lernen. Es war sehr wichtig für sie, vor diesen Stücken zu stehen, sie sprachen zu ihnen. Diese Transmission fehlte zuvor. Dabei hat sie die Kraft, zu verbinden.
Eine Konsequenz ist auch die Restitution der sogenannten Benin Bronzen an Nigeria, die sich noch in Köln befinden. Was bedeutet die Rückgabe geraubter Kulturgüter für die afrikanische Identität?
Um die 90 Prozent der afrikanischen Kulturgüter sind zwischen der Kongokonferenz 1885 und heute gestohlen worden und befinden sich in europäischen Museen. Das ist eine Singularität – natürlich haben wir andere Orte auf der Erde, deren Kunst sich woanders befindet, aber diese Proportion ist die schlimmste. Und diese Kunst ist so wichtig, um die eigene Identität zu finden, die psychische Infrastruktur, die eigene Geschichte zu erlernen. Sie ist wichtig für dieses Puzzle afrikanischer Nationen, weil sie sich selbst wiederaufbauen und versuchen, die eigenen Fragen zu beantworten. Manche beziehen sich auf die Geschichte, aber es geht auch darum, dieses Wissen, diese Imaginationen, diese Werke zu nutzen, um die Produktion der Gegenwart und Zukunft anzutreiben. Jeder Gesellschaft muss es möglich sein, aus der eigenen Kreativität zu schöpfen, um vorwärtsgehen zu können, sich aus dem kulturellen Erbe neu erfinden zu können.
Und was bedeutet die Rückgabe für die breitere Politik zwischen Afrika und Europa?
Es ist notwendig, den kolonialen Teil der Vergangenheit zu heilen. Wir erkennen an, dass der Kolonialismus vorüber ist. Aber die Effekte von Kolonialismus sind in den politischen und wirtschaftlichen Beziehungen immer noch vorhanden. Sie sind Teil der Geschichte, sind unser Erbe, aber in der jetzigen Zeit können wir neue ethische Grundsätze artikulieren. Es ist absolut notwendig, jetzt neue Regeln der Beziehungen zu schaffen. Wir können die Vergangenheit nicht ändern, aber die Gegenwart, in der wir eine andere Ökonomie des Wandels – im etymologischen Sinn – etablieren.
Es kann der Eindruck entstehen, die Kolonialdebatte in Deutschland drehe sich vorrangig um die Restitution von Materialitäten. Wieso glauben Sie, ist das der Fall?
Ich habe die deutsche Debatte um die Herero und Nama aus Namibia verfolgt, die Debatte um die Verbrechen in Tansania. Und vor unserem Bericht gab es schon Diskussionen um das Humboldt-Forum in Berlin und Bénédicte war schon in die Restitutionsdebatte eingebunden. Auch in Deutschland war die Frage, was mit den ethnografischen Sammlungen geschehen soll, gestellt. Mein Eindruck ist, dass Deutschland einen bedeutenden Teil an Geschichtsaufarbeitung in Bezug auf die Shoa und den Nationalsozialismus erreicht hat und damit diese Gesellschaft bereit war, den Kolonialismus zu hinterfragen. Die Kolonialdebatte kam hier zum richtigen Zeitpunkt an. In Frankreich war das anders, dort war die Gesellschaft noch nicht vorbereitet, den Raum für diese Diskussion zu öffnen. Dort wird Geschichte in der Schule anders gelehrt, es herrscht Verdrängung.
Worauf fokussiert sich die Diskussion um Kolonialismus in Senegal und in Afrika?
Zurzeit gibt es eine bedeutende Debatte um das, was die Jugend „Decoloniality“ nennt. Das erkennt an, dass Kolonialismus vorüber ist, aber nicht sein asymmetrisches Machtgeflecht. Und die Jugend fordert ein neues Equilibrium. Sie wollen Bedingungen, die fair sind, sie wollen reisen, Visas, sie wollen für ihre eigenen Ressourcen auf ihrem Territorium verantwortlich sein und von ihnen profitieren. Sie stellen all die institutionellen Fragen zu Wissen, Sprache, Kultur, und wie es darüber zu asymmetrischen Machtbeziehungen kommt. Sie wollen wahre Emanzipation.
Passiert da gerade eine Art politisches Erwachen?
Ein großes. Manchmal ist es sehr gut formuliert, manchmal schlechter in einer binären Art, mit einem „Wir“ und „den Anderen“. Aber es gibt ein tiefes Verlangen nach einer Neuerfindung der Beziehungen und mehr Gleichgewicht, mehr Respekt, mehr Ausgewogenheit in der Wirtschaft, in den internationalen Beziehungen, besonders in den Räumen, in denen Nationen in Beziehung stehen und wo die afrikanischen Gesellschaften durch die Auswirkungen des Kolonialismus vertrieben wurden.
Welche Rolle spielen Deutschland und Europa dabei?
Es gibt zwei Konditionen: Die Europäer müssen den Part des Aufräumens übernehmen, den Kolonialismus anerkennen und in der Lage sein, gegenwärtige koloniale Denkweisen zu erkennen - auch wenn es schwierig sein kann, selbstkritisch zu sein. Auf der anderen Seite muss die afrikanische Gesellschaft eine Führung hervorbringen, die asymmetrische Beziehungen ablehnt. Die Afrikaner müssen ihren Geist selbst dekolonialisieren. Auf dieser Basis können wir gemeinsam wachsen.
Was kommt als nächstes, wenn in Europa „aufgeräumt“, alles Geraubte restituiert ist?
Interessant ist die Frage, wie wir eine gemeinsame Zukunft schaffen können. Mit ethischen Beziehungen zwischen den Nationen, die durch Kolonialismus historisch gesehen im Konflikt standen. Wie können wir diese Geschichte überwinden und eine neue Ära beginnen? Ich weiß nicht, was die nächste Debatte sein wird. Aber die jetzige hat den Raum für sie geöffnet.
Stehen wir kurz vor einer neuen Ära?
Wir sind auf dem Sprung in eine neue Ära, aber es gibt gleichzeitig viel Widerstand und Konservatismus. Man kann das Aufkommen von Pluralität in der Geschichte nachzeichnen und so auch Zeichen von Hoffnung finden. Einerseits wird die Restitutionsdebatte geführt, auf der anderen Seite erstarken die rechten Flügel an mehreren Orten Europas, mit einem sehr beängstigenden Diskurs über „das Andere“. Wenn man sich heute engagieren möchte, kann man sich sein Schlachtfeld aussuchen. Ich wähle die Mitarbeit an einer neuen Art von Gesellschaft, einer neuen Art von Relationalität.