Das Musiktheaterkollektiv Novoflot bei „Musik der Zeit“ im WDR-Funkhaus.
Festival „Novoflot und Arnold Schönberg“Ehrlichkeit und Verlogenheit
„Ein Ermordeter aus Warschau“ ist symptomatisch für eben jenes Wegdrängen und Verharmlosen von Vertreibung, Krieg und Holocaust, das dieses musiktheatrale Projekt zu beklagen angetreten ist. Und genau in diesem Widerspruch liegen Ehrlichkeit und Verlogenheit der Inszenierung. Das seit 2002 bestehende freie Musiktheaterkollektiv Novoflot gibt vor, es ginge ihm beim Festival „Novoflot und Arnold Schönberg“ um den Jahrhundertkomponisten aus Anlass von dessen 150. Geburtstag.
Von der bis heute erschütternden Anklage „Ein Überlebender aus Warschau“, die der ins amerikanische Exil vertriebene Schönberg 1947 schrieb und der Titel der Kölner Veranstaltung unzweideutig beschwört, erklingt jedoch kein Ton. Stattdessen gibt es nur flüchtige Bruchstücke aus dem Liederzyklus „Herzgewächse“ und expressionistischen Monodram „Erwartung“. Keine Rolle spielt auch das Lebensschicksal Schönbergs, der von den Nationalsozialisten gleich dreifach verfolgt wurde: rassistisch als Jude, ästhetisch als Neutöner und politisch als „Kulturbolschewist“.
Schönbergs Musik erklingt nur beiläufig in kleinen Schnipselchen
Die Aufführung im Rahmen der WDR-Reihe „Musik der Zeit“ beginnt als Anspielprobe von Michael Wertmüllers „Ein Ermordeter aus Warschau“. Regisseur Sven Holm zeigt Vorbereitungen zu eben jener Premiere, die anschließend stattfinden soll und in Wirklichkeit längst begonnen hat. Eine Tänzerin macht Dehnübungen, ein Pianist studiert seinen Part, und bei einer Tasse Tee erzählt eine ältere Dame vom Interview, das sie als Zeitzeugin von Krieg – vermutlich auch Holocaust – einem Journalisten gegeben habe.
Weitere Mitwirkende betreten den Sendesaal und monologisieren gemäß dem Libretto von Max Czollek über Angst, Schmerz, Müdigkeit, Melancholie, Lebenslust, Trostlosigkeit und wie sie damit fertig werden beziehungsweise eben gerade nicht fertig werden. Schönbergs Musik erklingt nur beiläufig in kleinen Schnipselchen wie bei einer ersten Leseprobe von Altistin Noa Frenkel und Sopranistin Rosemary Hardy lieb- und ausstrahlungslos gesungen.
Schließlich tritt Czollek selbst ans Mikrofon. Die rhetorische Frage „Endet der Nationalsozialismus mit dem physischen Tod der alten Nazis?“ verneint er sinnfällig unter Verweis auf die bei Nachfahren anhaltenden Wunden der einstigen Verbrechen, Vertreibungen, Ermordungen und Diebstähle. Er klagt gegen die gegenwärtig wachsende Geschichtsvergessenheit. Doch erstaunlicherweise nimmt er keinen Bezug auf den Jahrestag des Hamas-Überfalls auf Israel vom 7. Oktober und die in deutschen Städten aktuell stattfindenden antiisraelischen Proteste.
Sentimentale Gefühligkeit
Bei der Uraufführung von Wertmüllers Stück singen die Vokalistinnen dann ein Duett in wunderschönen Terzparallelen zu schluchzender Violine. Meint der Schweizer Komponist die sentimentale Gefühligkeit ernst oder will er sie bloß als Kitsch entlarven, weil sich nach Auschwitz jedes Lied verbietet? Schönberg selbst hätte derlei tonale Klischees jedenfalls als „The Blessing of the Dressing“ verachtet.
Unverständlich bleibt auch die plötzlich losbrechende Rock-Motorik von E-Gitarren, Drumset und Ensemble unter Leitung von Vicente Larrañaga, die weder etwas mit Schönberg noch mit dem Holocaust zu tun hat. Stattdessen lassen Spaß und gute Laune alles vergessen, was bisher gesagt wurde, und liefern gerade mit dieser verharmlosenden Verlogenheit eine ehrliche Diagnose unserer Zeit.
Das Festival Novoflot und Arnold Schönberg läuft noch bis zum 8. Oktober: